Sieger 2014 – Niki Terpstra (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Sieger 2014 – Niki Terpstra (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

253,5 Kilometer, davon 52,7 km Kopfsteinpflaster in 27 Sektoren – das sind die Zahlen für Paris-Roubaix 2015. Das Rennen wird allen Startern die Kraft aus Armen und Beinen saugen, aber nur einer wird davon nichts spüren. Wer den Pflasterstein in den Himmel reckt, ist am Sonntag der glücklichste Mensch der Radsportwelt. Doch der Weg zum Sieg ist lang, hart und voller Hindernisse.

Die Ausreißergruppe

Wie in jedem Jahr wird zu Beginn eine Ausreißergruppe wegfahren. Die kleineren Teams ohne echten Sieganwärter suchen die Chance in der Flucht und die Favoritenteams wollen möglichst einen Fahrer vorn haben, der dann später dem Kapitän noch helfen kann. Es kann also durchaus ein paar Kilometer dauern, bis alles Teams mit der Zusammensetzung der Fluchtgruppe einverstanden sind und die Gruppe endgültig steht. Vermutlich wird die Ausreißergruppe so weit weggelassen, dass sie als erste in den Wald von Arenberg fahren – eine der Schlüsselstellen des Rennens.

Wiggins im Wald von Arenberg (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Wiggins im Wald von Arenberg (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Trouée d’Arenberg (***** 2400 m)

Der Wald von Arenberg. Mythos, Legende, Ort vieler Dramen und erster Scharfrichter im Rennen. Während die Fluchtgruppe erst ab dem groben Pflaster leiden muss, geht es im Feld schon einige Kilometer vor dem Pave-Stück zur Sache. Alle wollen vorn im Feld sein, wenn es aufs Pflaster geht, denn es wird Stürze und Behinderungen geben. Wer zu weit hinten ist, kommt nicht mehr zurück, hat das Rennen verloren. Das bedeutet Vollgas im Feld, ein richtiger Sprint in den Wald von Arenberg.
Das Pflaster ist grob, fast 2,5 km lang – hier wird selektiert! Hier kämpft jeder für sich allein. Am Ende der Pflasterstraße biegt die Strecke nach links auf den Asphalt, dann wird geschaut – Wer ist noch dabei? Wer ist weg? Wo ist der Kapitän?

Vermutlich haben sich dann ein paar Gruppen gebildet und die Favoritengruppe ist deutlich keiner geworden. Die Mannschaften mit vielen verbliebenen Helfern übernimmt die Verantwortung. Ist einer der Favoriten abgehangen, wird erbarmungslos Tempo gemacht, dass dieser nicht mehr zurückkommt.

Attacken im Mons-en-Pévèle (***** 3000 m)

Zwischen dem Wald von Arenberg und Mons-en-Pévèle liegen 8 Pave-Sektoren. Vielleicht haben sich schon einige Fahrer aus der zweiten Reihe aus dem Staub gemacht und die Flucht nach vorn angetreten. Viele Fahrer aus der frühen Fluchtgruppe dürften nicht mehr „überlebt“ haben und vor der Favoritengruppe liegen. Auch wenn der Mons-en-Pévèle-Sektor ausgebessert wurde, er ist hart und lang. Hier werden alle Fahrer leiden und sie werden offenbaren, wie stark sie sind. Vielleicht fällt hier die Vorentscheidung. Es sind zwar noch 50 km bis ins Ziel, aber es ist eine gute Gelegenheit zu testen, was die Konkurrenz drauf hat. Etixx-Quickstep könnte versuchen Sky und Katusha in die Defensive zu bringen. Stijn Vandenbergh könnte angreifen, dann schickt BMC vielleicht Oss mit, Lotto-Soudal Benoot, vielleicht fahren dann auch noch Gaudin (AG2R) und Breschel (Saxo-Tinkoff) mit – es entstünde eine superstarke Gruppe, die man nicht zu weit weglassen darf. Natürlich schauen dann alle auf Katusha mit Kristoff und Sky mit Wiggins & Thomas. Vermutlich wird Sky der alten Linie treu bleiben und versuchen zu kontrollieren. Es heißt in Schlagdistanz bleiben, bloß nicht mehr als 1 min Rückstand.

John Degenkolb (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
John Degenkolb (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Die (Vor)Entscheidung – Le Carrefour de l’Arbre (***** 2100 m) 

Kurz vor dem entscheidenden Pave-Stück wird es um die letzten Ausreißer geschehen sein. Das Grüppchen der Top-Favoriten ist klein geworden, durch Defekte und Stürze zusätzlich ausgedünnt. Jetzt fällt die Entscheidung, wer die Chance auf den Stein hat. Der Carrefour de l’Arbre ist brutal hart und die Schlüsselstelle. Es sind keine 20 Kilometer mehr bis ins Ziel. Kein Taktieren mehr, kein Abwarten, kein Verstecken – Vollgas, alles was noch in den Beinen ist. Das schmale Spalier der Fans gibt die Richtung vor, das Gebrüll der Massen dröhnt den Fahrern noch lange nach dem Rennen in den Ohren. In diesen Sekunden auf dem Pflaster bekommen sie es nicht mit, dranbleiben, fighten, quälen, nur nicht abhängen lassen. Das Leiden ist gleich, für den Fünften und den Fünfundfünfzigsten im Rennen. Der Applaus und das Anfeuern auch – für die Zuschauer ist hier jeder ein Held, auch der, der 20 min nach der Spitze vorbeifährt. Hier fühlt man den Mythos Roubaix, die bedingungslose Liebe der Fans für den Sport. Radsport pur – abseits von Toursiegen und Superlativen. Hier auf dem Pflaster ist jeder Fahrer ein Held und wird genau so behandelt. Die paar besoffenen Idioten, die es an der Strecke leider auch gibt, werden von den Radsportfans meist in Schach gehalten.

Greg van Avermaet am Boden (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Greg van Avermaet am Boden (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Sportlich ist nach dem Carrefour de l’Arbre eine Vorentscheidung gefallen. Hat Stybar Kristoff abgehangen? Ist John Degenkolb noch dabei? Was machen Sky, Lotto-Soudal und BMC? Ist Kristoff noch vorn dabei, werden jetzt die Attacken losgehen, denn keiner will mit ihm im Velodrom um den Sieg sprinten. Er wird nicht alle Attacken allein regeln können, jetzt fällt die Entscheidung. Ist Kristoff bereits aus dem Rennen, ist alles offen. Die Fahrer wissen jetzt auch, wer der Stärkste ist.

 

Kristoff mit Defekt im falschen Moment (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Kristoff mit Defekt im falschen Moment (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Im letzten Jahr profitierte Terpstra von Stärke seiner Mannschaft und fuhr allein ins Velodrom. Vielleicht kommt in diesem Jahr eine kleine Gruppe an, in der dann auch John Degenkolb steckt. Sprinten nach 250 Kilometern und diesem Pflaster-Ritt muss sich anfühlen wie Tretbootfahren mit Betonschuhen. Nur einer kann gewinnen, gefeiert werden im Velodrom aber alle!

 

Niki Terpstra am Ziel der Träume (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Niki Terpstra am Ziel der Träume (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)