Es waren zwei interessante Giro-Wochen. Es gab beeindruckende Sprints und auch einige Etappen mit mittlerem Unterhaltungswert. Nun geht der Giro in die entscheidende Phase und wir dürfen uns auf großes Kino freuen. Nach den ersten richtig schweren Bergetappen haben alle vergessen, dass ein paar Sprinter und Zeitfahrer das Rennen wegen der Tour aufgegeben haben. Jetzt steht uns Ramba-Zamba in den Alpen bevor und wie man in Italien Radsportfeste zu feiern weiß, konnten wir in den letzten Jahren bewundern und genießen. Da sehen wir es auch den TV-Regisseuren nach, dass sie uns jeden Tag die Models mit den Giro-Trikots mittels hüfthoher Kamera präsentieren.

 

Steven Kruijswijk – stark, aber ab jetzt unter Druck

Es trägt sich sicher sehr angenehm, dieses Rosa Leibchen. Doch so leicht wie man es auf dem Siegerpodest überstreifen kann, so schwer kann es im Rennen sein.

„Sollen wir die Gruppe mit 2 Astanas fahren lassen?“ „Der sportliche Leiter sagt, wir sollen bis zum vorletzten Berg Piano machen, aber ist das richtig so?“ „Valverde sieht heute aus wie ein Stier, zum Glück ist mein Trikot nicht rot.“ „Gott sei Dank gibt es UCI-Regeln, sonst würde Nibali am Gipfel auf ein Downhill-Rad wechseln und den direkten Weg ins Tal nehmen.“ – Kruijswijk kann sich während der Etappen nun allerhand Gedanken machen. Er ist der Gejagte.

Steven Krujswijk hat das Rennen in der Hand, aber nun ist er es, der keinen Fehler machen darf. Der Druck ist mit dem Rosa Trikot gekommen, er lastet auf ihm und seiner Mannschaft. So wie es aussieht, ist der 28-Jährige im Moment der stärkste Fahrer, doch er kennt die Belastung des Führenden kaum: mehr Interviews, mehr Aufmerksamkeit, größere Erwartungshaltung. „Holland kann den Giro gewinnen“, treten muss er allein. Manchmal ist Druck der stärkste Gegner.

 

LottoNL-Jumbo – stark genug um eine Woche Rosa zu verteidigen?

Enrico Battaglin, Twan Castelijns, Martijn Keizer, Primož Rodlic, Bram Tankink, Maarten Tjallingii und Jos van Emden bilden Kruijswijks Streitmacht gegen die Astana- und Movistar-Jungs. Viel Erfahrung hat das LottoNL-Jumbo-Team, das ist unbestritten. Doch in den Bergen wird die Luft schnell dünn. Am letzten Berg vor dem Ziel braucht Kruijswijk eh keine Helfer, da muss er es selbst regeln. Stimmt, aber was passiert, wenn Astana auf der vorletzten Etappe schon am ersten Berg das Gaspedal auf „Laktat kommt zu den Ohren raus“ stellt? Dann ist Kruijswijk die letzten 100 Kilometer allein. Valverde, Chaves, Nibali – es wird ihn dann niemand locker gen Sant Anna di Vinadio eskortieren. Da könnte er auch mit dicken Euro-Bündeln wedeln, es würde nichts helfen. Es blieben ihm dann nur zwei Helfer: Bein links & Bein rechts. Es dürfte allen klar sein, dass Kruijswijks Team das Rennen in den schweren Bergen nicht kontrollieren kann. Also muss er clever fahren, auf Allianzen und Konflikte hoffen und vor allem auf seine eigene Stärke vertrauen. Aber das ist leichter gesagt, als getan.

 

Für Valverde und Nibali zählt nur der Sieg

Alejandro Valverde und Vincenzo Nibali sind alles, aber keine Traumgegner in einer Grand Tour. Nibali hat sie alle schon gewonnen und muss nur sich selbst und seinem nächsten Millionen-Vertrag etwas beweisen. Alejandro Valverde hat die Vuelta schon gewonnen (ja, stimmt wirklich, war aber irgendwie in einer anderen Zeit) und war bei der Tour schon auf dem Podest. Was er will, ist diese gekringelte Trophäe in die Mitte des Klassiker-Pokale-Haufens stellen.

Nibali und Valverde werden in den letzten Bergetappen auftreten, wie eine Fussballmannschaft, die im Champions-League-Finale in der 91. Minute mit einem Tor in Rückstand liegt – lange Bälle, alle vor und Hauptsache rein das Ding, auch wenns weh tut.

Vor allem Vincenzo Nibali fährt nicht um Platz zwei, er fährt auf Sieg und nimmt gern auch ein Risiko in Kauf – es gibt deutlich einfachere Gegner!

 

Die zweite Reihe pokert gern

Die Kräfteverhältnisse sind klar, doch die Abstände sind noch nicht riesig. Rafal Majka und Ilnur Zakarin haben keine fünf Minuten Rückstand. Ihnen darf man nicht aus taktischen Gründen leichtfertig 3 Minuten schenken, nur weil Valverde, Chaves und Nibali keine Lust haben hinterherzufahren. Jeder Fahrer kann mal einen schlechten Tag erwischen. Trifft es auch Kruijswijk, so sind Zakarin und Majka nur noch 2 Minuten von Rosa entfernt. Diese Rechnung soll eines verdeutlichen: Steven Kruijswijk muss nicht nur auf Nibali, Valverde und Chaves achten, er darf auch Majka und Zakarin nicht aus den Augen lassen. Schauen sich Kruijswijk und die Konkurrenten zu lange an, ist schnell einiges an Zeit verloren. Dann wird es am letzten Tag vor Turin ein unkontrollierbares Gemetzel.

 

Mit einem Lächeln nach Turin – Pokerface mal anders

Es ist der Giro d’Italia, der Macho unter den Grand Tours. Natürlich zählen hier die großen Namen. Vincenzo Nibali hat den Giro gewonnen, ist als Favorit angetreten und der italienischer Rad-Held. Logisch, dass die ganze (Giro-)Welt vor allem über ihn redet. Und mit Alejandro Valverde ist noch ein ganz großer Name endlich beim Giro dabei. Beide haben Zeit verloren, liegen aber nicht chancenlos zurück. Ihre Teams sind die stärksten im Feld und man erwartet von ihnen in den nächsten Tagen die Großangriffe, die Radsport-Geschichtsbücher füllen.

Doch der erste Verfolger auf den Mann in Rosa ist jemand anderes. Esteban Chaves ist 1,64 Meter klein, 55 kg leicht und brutal schwer abzuhängen. Seine Ausgangsposition ist ideal. Es werden nicht von ihm die Großangriffe erwartet, sondern von Movistar und Astana. Er muss „nur“ mitfahren. Wird Kruijswijk aus dem Trikot gefahren, stellt er sich freiwillig zur Verfügung. Chaves fährt einen extrem starken Giro. Er scheint am Berg ebenso stark wie Kruijswijk, traute sich sogar selbst Attacken zu setzen. Wer die letzte Giro-Woche mit Roadbook und Ergebnisliste plant, sollte die Rechnung nicht ohne Esteban Chaves machen. Sonst könnte sein sein ansteckendes Lächeln in Turin noch strahlender werden, wenn das denn möglich ist.