Marcel Kittel

Fünf Etappen hat er bei der Tour de France 2017 gewonnen. Er war der beste Sprinter der Welt, mit Abstand. Nun steht er nach der ersten Woche der Tour ohne Etappensieg da. Team, Fans, Kollegen, Sponsoren – alle sind enttäuscht. Es läuft nicht bei Kittel in diesem Jahr. Für das Team ist das eine Katastrophe. Doch diese ist zum Teil selbstgemacht. 

Kittel hat für 2018 als bester Sprinter der Welt bei Katusha-Alpecin unterschrieben. Der Vertrag dürfte so gestaltet sein, dass auf Kittel nicht so schnell finanzielle Probleme zukommen werden. Für die Sponsoren, auch Shampoo-Hersteller Alpecin, war es ein Königstransfer. Der vermeintliche Sieggarant sollte für perfekte Schlagzeilen sorgen. Kittel ist dabei nicht nur schnell und erfolgreich. Er ist ein sympathischer Kerl, eloquent, intelligent, mit Manieren und tollen Haaren. Alles perfekt. Wenn die Leistung stimmt.

Doch im Moment passt es nicht und beim Team scheinen die Nerven blank zu liegen. „Wir bezahlen ihm eine Menge, aber er ist nur an sich selbst interessiert“, warf der Sportliche Leiter Dimitri Konyschev Kittel in der französischen Sportzeitung L’Equipe vor. Ist es allein Kittels Schuld, dass es nicht rund läuft? Auf der Suche nach den Gründen für die Sprint-Probleme, muss man auch in die Vergangenheit des Teams schauen. Der Fall ist komplex und jede plumpe Erklärung greift zu kurz.

 

Kittels Wechsel nachvollziehbar, aber nicht ohne Risiko

Dass Kittel den Weg von Quick-Step zu Katusha-Alpecin gemacht hat, ist nachvollziehbar. Zum einen wird es finanziell stimmen, zum anderen ging er auch einem sportlichen Konflikt aus dem Weg. Mit Fernando Gaviria hatte das belgische Team einen jungen, sehr talentierten und aufstrebenden Fahrer. Sein einflussreicher Manager Giovanni Lombardi versteht es perfekt, die Strippen zu ziehen und Wege zu ebnen. Mit dem Wechsel zu Katusha ging Kittel einer möglichen Nicht-Nominierung für die Tour aus dem Weg. 

 

Ständig im Umbruch – Katusha-Alepcin

Doch Kittel verließ bei seinem Wechsel das beste Team der Welt. Quick-Step läuft seit Jahren wie eine gut geschmierte Maschine. Und er ging zu einem Team, das sich im ständigen Umbruch befindet. Seit Jahren gibt es bei der ehemals russischen Mannschaft strukturelle Veränderung. Im Jahr 2009 gegründet war zunächst Andrej Tschmil der General Manager. Tschmil wurde 2011 abgesetzt und durch Hans-Michael Holczer ersetzt. Doch der Ex-Gerolsteiner-Chef wurde ebenfalls schnell ausgetauscht. Nach nur zehn Monaten ersetzte man in durch Wjatscheslaw Jekimow.

Immer wieder sorgte das Team, hinter dem Oligarch Igor Makarov steht, mit Dopingfällen für Aufsehen. Der Ruf war lange Zeit miserabel. Es galt als Oldschool-Truppe mit den bekannten Problemen. Doch das wollte man ändern und begann mit dem Umbau. Der Schweizer Anwalt Alexis Schoeb rettete 2012 dem Team vor dem CAS die Lizenz und war in die Neugestaltung des Teams involviert. Mit dem Rückhalt Makarovs entwickelte Schoeb ein Konzept. Neue Fahrer wurden verpflichtet, die Lizenz in der Schweiz gelöst, eine Klamotten-Kollektion als Stütze für die Marke entwickelt. Ex-Armstrong-Helfer Jekimow setzte man als General Manager ab, wohl auch um ein Zeichen zu setzen. Nach außen ein Umbruch, der konsequent und strukturiert anmutet.

Doch dieser Umbruch ging nicht geräuschlos von statten und mit dem neuen Manager José Azevedo hat man wieder einen Ex-Armstrong-Helfer an der Spitze. Der russische Einfluss scheint weiterhin sehr groß und auch das Personal ist in Teilen erhalten geblieben. Mit dem Einstieg von Alpecin schien das Team den nächsten Schritt zum internationalen Rennstall gemacht zu haben. Kittels Verpflichtung war auch für das Image positiv.

Doch die Strukturen im Hintergrund haben sich weniger stark verändert. Zwar hat man Trainer eingestellt, macht Bikefitting und investiert in weitere Bereiche, doch im Vergleich zu den anderen WorldTour-Mannschaften zählt man nicht zur Innovations-Spitze des modernen Radsports. Hier hatte Kittel bei Quick-Step sicher ein ganz anderes Umfeld.

 

Mit Kittel die Erfolge kaufen

Der Kern des Katusha-Projektes ist der Wunsch nach Erfolg. „Race to win“ ist der Slogan der Mannschaft. Man will nicht das Team sein, dass junge Fahrer entwickelt oder das Sprungbrett nach ganz oben ist. Die Fahrer sollen auf der Ziellinie die Arme in die Luft reißen, dann ist alles Prima. Tun sie es nicht, wird gehandelt.

Im Jahr 2017 kam der Bruch mit Alexander Kristoff. Der Norweger hatte in den Jahren zuvor für Erfolge bei Rad-Monumenten gesorgt und holte auch 2017 Etappensiege. Doch als der ganz große Erfolg ausblieb, kam es zum Krach. Kristoff ging damit an die Öffentlichkeit, dass man ihm mitgeteilt hatte, er sei zu schwer. Ob diese Kritik berechtigt war, oder nicht – Kristoffs Gang an die Öffentlichkeit wirft Fragen auf. Auch über den Umgang im Team.

Nun also holte man Kittel. Werbewirksam, versteht sich. Doch während es bei Kittel nach seinem Wechsel zu Quick-Step zwei Jahre zuvor auf Anhieb klappte, war bei Katusha-Alpecin der Wurm drin. Der Sprintzug, der im Sommer 2017 Alexander Kristoff noch perfekt in Position gebracht hatte, funktionierte zu Beginn der Saison überhaupt nicht. Kittel musste sich allein den Weg bahnen und schien dazu nicht in der Form wie in den Jahren zuvor. Lediglich zwei Etappen im März, bei Tirreno-Adriatico – das wars mit Kittel-Erfolgen bis zur Tour 2018. Im vergangenen Jahr war Kittel mit neun Siegen in der Tasche zur Tour angereist!

Die Gründe für Kittels schwache erste Saisonhälfte sind sicher vielschichtig. Defekt-Pech beim Scheldeprijs, der nicht rund laufende Sprintzug – aber es fehlte offenbar auch die Form. Dann kam auch noch das Verletzungspech von Anfahrer Marco Haller – mehr als ungünstig. Machte man sich zu diesem Zeitpunkt im Team schon Sorgen?

 

Druck, Druck Druck

Mit dem ausbleibenden Erfolg von Kittel wuchs der Druck im Team immer mehr. „Das wird schon“, schien das Credo zu sein. Egal in welchem Bereich des Teams, überall hieß es: „Wenn Marcel bei der Tour Etappen gewinnt, ist alles gut„. Klar, das stimmt. Die Tour ist das wichtigste Rennen. Holt man hier Erfolge, ist der Rest der Saison nicht so wichtig.

Doch man packte immer mehr Steine in Kittels Rücksack. Erhöhte den Druck. Bei der Kalifornien-Rundfahrt lief es nicht. Kittel ging wieder ins Höhentrainingslager, ähnlich wie 2017. Doch die Tour war nah, und dann machte sich im Team Verunsicherung breit, heißt es im Umfeld. Plötzlich stellte man sich wohl die Frage, was passiert, wenn Kittel nicht gewinnt? 

 

Strategische Fehler

Dass der Druck so enorm ist, liegt auch an der Planung im Team. Hätte man Ilnur Zakarin zum Giro geschickt, und er hätte dort eine Etappe gewonnen und wäre in den Top-5 gelandet, wäre der Druck nun geringer. Doch Zakarin musste unbedingt zur Tour. Als Kapitän. Bei nur 8 Fahrern je Mannschaft. Das Team probiert den Spagat aus Sprinter-Mannschaft und Klassement-Team. Durchaus mutig. Vor allem, wenn man bis zum Juli Vorletzter im WorldTour-Ranking ist.

Bei den Klassikern im Frühjahr lief es auch eher mau. Der tolle Auftritt von Nils Politt bei Paris-Roubaix ist mehr als bemerkenswert. Aber für „race to win“ ist Rang sieben eines 24-Jährigen zu wenig. Dabei stecken im Kader mehr Geschichten, als die ausbleibenden Siegerstorys. 

Für den Verkehrsunfall von Marco Haller kann niemand etwas, aber man kann durchaus die Frage stellen, warum man mit Kittels Verpflichtung keinen weiteren echten Anfahrer geholt hat. Gut, der Zug funktionierte 2017 sehr gut, das wäre eine Erklärung. Doch ohne Haller läuft es nun nicht. Man ging mit Rick Zabel als wichtigsten Mann für Kittel ins Rennen. Eine Rolle, der er wohl noch nicht gewachsen ist. Alex Dowsett und Nathan Hass ließ man für die Tour zu Hause.

 

Kopfmensch Kittel

So saß Marcel Kittel im „race to win“-Shirt auf der Pressekonferenz vor dem Tourstart. Er war freundlich wie immer, sprach leise und bedacht. Nachdem die Erfolge im Frühjahr ausgeblieben waren, stellte er sich vor seine Kollegen, redete seine eigene Leistung nicht schön und betonte, dass es schwer bleiben werde, er aber weiter kämpfen will und nicht aufgeben.

Kittel blieb während der ersten Tourwoche scheinbar ruhig. Sein Team blieb es nicht. Nun soll Kittel allein schuld sein, am ausbleibenden Erfolg? Die öffentliche Kritik dürfte ihn hart treffen. Marcel Kittel ist ein intelligenter Kerl, für den im Leben mehr zählt, als sportlicher Erfolg. Aber bevor man ihm vorwirft, sein Talent nicht auszuschöpfen, sollte man die andere Seite dieses Athleten anschauen.

„Er kann sich in die Fresse hauen, wie kaum jemand anders“, sagte einer seiner Teamkollegen ihm Jahr 2007. Kittel war Zeitfahrweltmeister in der Juniorenklasse. Er hatte großes Talent und die Fähigkeit sich komplett auszuwringen. Das kann er noch heute. Kittel ist groß und schwer, hat aber schon häufiger gezeigt, dass er auch auf einem Terrain gewinnen kann, das ihm eher nicht liegt. So gewann er die schwere Sprintankunft der längsten Tour-Etappe 2016. Zuvor hatte man spekuliert, dass er nicht in entsprechender Form sei. 

Kittel kann über sich hinauswachsen. Er kann sich auf ein Rennen konzentrieren, zu 100% vorbereiten und dann eine Leistung abliefern, die beeindruckt. Hinterher scheint die Luft raus, auch mental. Er ist ein absoluter Kopfmensch. Was die Aussage des Sportlichen Leiters für ihn bedeutet, mag man sich nicht vorstellen.

 

Es passt was nicht 

Für Quick-Step war Kittel ein Erfolgsgarant, weil man es verstand mit ihm umzugehen. Er bekam das Vertrauen, hatte professionelle Unterstützung in jedem Bereich, war Teil der Mannschaft, die ein eingeschworener Haufen ist. Die Teamkollegen machten sich für ihn krumm und er wusste, wie er es ihnen zu danken hatte, heißt es aus Quick-Step-Kreisen. Auch Teamchef Patrick Lefevere äußert sich nur positiv über Kittel.

Bei Katusha fühlte man sich von außen betrachtet an einen Fußball-Star erinnert, der in eine Zweitliga-Mannschaft wechselt. Kittel ist der Star und die Kollegen in seinem Windschatten. Sowohl beim Erfolg, aber auch bei Niederlagen. Dazu der Druck und das einseitige Marketing. 

Oberflächlich ist Radsport ganz einfach. Da entscheiden Watt auf dem Pedal über Sieg und Niederlage. Doch im Detail ist Radsport auf Weltniveau komplex, auch weil es Menschen sind, die in die Pedale treten. Mehr Druck bedeutet dabei nicht mehr Leistung, selbst wenn der Angestellte Überstunden macht. Es ist ein sensibles Geflecht mit vielen Faktoren. Im Falle von Katusha-Alpecin scheint es nicht zu passen, sonst würden die Verantwortlichen nicht so auf ihren Kapitän einhauen.

Bei der Tour zählt nur der Sieg, erst Recht für das Team mit dem „race to win“ Slogan. Nun bleibt der Erfolg aus und der Sündenbock ist schnell gefunden. Kittel, der nur sich an sich denkt. Abgehoben, nach dem Erfolg und satt durch das viele Geld. Das ist natürlich eine mögliche Betrachtungsweise. Aber eine andere könnte es sein, dass es auch am Umfeld, an der Unterstützung, dem Vertrauen und dem Sprintzug liegt.

Was auch immer im Detail die Gründe sind – mit der öffentlichen Schuldzuweisung an Kittel von der Sportlichen Leitung wird offensichtlich, dass nicht nur Kittel das Problem des Teams sein kann. Denn: Hätte der Sportliche Leiter erst während der Tour gemerkt, dass Kittel nur an sich interessiert ist, kann er zuvor nicht sehr aufmerksam gewesen sein, im Umgang mit seinem Top-Star. Und war das zuvor schon klar, hätte man ihn konsequenterweise gar nicht mit zur Tour nehmen dürfen.

Und waren es andere Faktoren, die für die Kader-Zusammenstellung verantwortlich sind, wie es Konyschev vielleicht mit der Aussage „ich habe ihn nicht ausgesucht“ andeuten wollte, dann wirft das ebenfalls kein gutes Bild auf die Teamstruktur. Denn wenn der Sportdirektor nicht hinter dem Kader steht, wie sollen dann im Spitzensport gute Leistungen erzielt werden?

Marcel Kittel ist nicht in der Form von 2017, der Katusha-Sprintzug ist es auch nicht. Die gesamte Saison von Katusha-Alpecin ist bislang ein Trauerspiel. Da scheint es so, als sei das Schwarze-Peter-Spiel einfach Ausdruck der Hilflosigkeit. Es läuft nicht, und man weiß nicht, was zu tun ist – so der Eindruck von außen.

Kittel machte nach den Aussagen der Teamleitung einen angefressenen Eindruck, hielt sich aber mit Äußerungen zurück. Am Montag soll es ein klärendes Gespräch zwischen Kittels Manager und dem Team geben. Man darf gespannt sein, wie es weitergeht – das es nach dieser öffentlichen Kritik von Konyschev an Kittel am Ende einen Gewinner gibt, scheint ausgeschlossen.