Paris Roubaix 2019

 

Hach, Nils

Platz zwei bei Paris-Roubaix ist megakrass. Und es war absolut verdient. Er hat selbst die entscheidende Gruppe initiiert, dann die Selektion 14 km vor dem Ziel herbeigeführt und ist am Ende einfach einem der besten Klassikerfahrer aller Zeiten unterlegen. Nils Politt darf, nein muss stolz sein auf diese Leistung! 
Vor ein paar Tagen schrieben wir hier bereits über die Entwicklung von Politt. Im Jahr 2016 fiel er das erste Mal bei der Ronde auf. Im vergangenen Jahr war er nach Rang sieben bei Paris-Roubaix die Entdeckung der Pflasterrennen. Nun steht der Kerl mit 25 Jahren voll verdient auf dem Podium im Velodrom von Roubaix. Wow.

Politt ist seinen Weg gegangen, hat sich in diesem Frühjahr voll auf sich konzentriert und offenbar auch im Training viel richtig gemacht. Er hat sich weiterentwickelt und ist zum Faktor bei den großen Klassikern geworden. Sechster beim E3-Preis, Fünfter bei der Ronde und nun Zweiter bei Paris-Roubaix. Der Hype wird groß sein, seinen Schultern werden die nächsten Wochen schmerzen, vor lauter gut gemeinten Klopfern und Gratulationen. Auch damit muss er nun umgehen können, genauso wie mit dem Druck, der im Frühjahr 2020 auf ihm lasten wird.

„Nee, keine Sekunde“, sagt Politt auf die Frage, ob er kurz enttäuscht war, den Sieg in Roubaix so knapp verpasst zu haben. „Ich bin noch jung, ich habe noch ein paar Jahre und werde angreifen“, sagte er nach seinem größten Erfolg. Eine Reaktion, die zeigt, was für ein Typ Politt ist. Gelingt es ihm auf dem Boden zu bleiben und sich diese „Racer-Haltung“ zu bewahren, werden wir mit ihm noch viele solcher großartigen Radsport-Tage, wie den 14. April 2019 erleben. 

 

Deceuninck-QuickStep – die Pflaster-Bosse

Mit seinem Sieg bei Paris-Roubaix setzte Philippe Gilbert einen Schlusspunkt hinter die famose Pflaster-Klassiker-Saison seines Teams. Die Bilanz ist beeindruckend, genau wie die Leistung des Teams. Allein bei Paris-Roubaix waren 4 Deceuninck-QuickStep-Fahrer in den Top-8. Brutal. Aber irgendwie hat man sich daran gewöhnt, erwartet einfach, dass die „Blauen Jungs“ von Teamchef Lefevere das Pflaster-Frühjahr dominieren. Man stelle sich vor, solch ein Ergebnis gelänge irgendeiner anderen Mannschaft? Die komplette Teamleitung wäre noch beim Giro fahruntauglich und bräuchte Chauffeure, so hart würde man feiern. 

Die Ergebnisse von Deceuninck-QuickStep sind aber nicht die Leistung eines Überfliegers oder glücklich zustande gekommen. Sie haben die Rennen dominiert und die Erfolge erzwungen. Meist mit 1-2 Fahrern in der Offensive und 2-3 weiteren, die in der Verfolgergruppe alle Bemühungen der Konkurrenz im Keim erstickten. So geht moderner Radsport, wenn man die nötigen Fahrer dazu hat. Doch anders als der Sky-Zug in den Bergen der Tour de France, erstickt Deceuninck-QuickStep nicht die Rennen, sondern animiert sie. Sie siegen am Fließband, weil sie in der Breite stark sind und clever agieren. Manchmal sind Fahrer anderer Teams stärker, aber taktisch in der schlechteren Position.

Mit diesem Frühjahr kann die Saison 2019 für das Team von Patrick Lefevere keine schlechte mehr werden, egal wie der Rest des Jahres läuft. Abgesehen von Gent-Wevelgem, wo man alles auf Elia Viviani setzte und man am Ende leer ausging, liest sich die Ergebnisliste wie die Bundesliga-Tabellenplatzierung des FC Bayern. Aber langweilig war es bei den Klassikern nie!

Rennen und Platzierung des besten Deceuninck-QuickStep-Fahrers:
Omloop Het Nieuwsblad 1
Kuurne-Brüssel-Kuurne 1
Le Samyn 1
E3 BinckBank Classic 1
Gent-Wevelgem 19
Dwars Door Vlaanderen 3
Ronde van Vlaanderen 2
Scheldeprijs 1
Paris-Roubaix 1

 

Immer mehr Klassiker-Teams

Vor einigen Jahren gab es 2-3 Klassikerteams die sich um die Siege der großen Rennen stritten, während die Hälfte des Feldes nur einen Haken an die Pflaster-Rennen machen wollte. Auch wenn das vielleicht etwas übertrieben ist, der Stellenwert der Klassiker hat sich stets erhöht und immer mehr Mannschaften konzentrieren sich auf diese Rennen. Das ist 2019 besonders deutlich geworden.

Neben Deceuninck-QuickStep, Bora-hansgrohe und Trek-Segafredo gehören mit Education First, AG2R und Jumbo-Visma drei richtig starke Mannschaften zur Kategorie „Klassiker-Equipe“. Auch das CCC-Team um Greg van Avermaet hatte sich auf diese Rennen konzentriert. Dazu die Groupama-FDJ-Mannschaft, die ihre Klassikerfraktion aufgestockt hat und versuchte, die Rennen mit zu gestalten. Astana, Lotto-Soudal und Sky haben auch eine gute Klassiker-Fraktion zusammen und auch die neue Mannschaft von Niki Terpstra, das Team Direct Energie bzw. Total Direct Energie, zeigte sich in den Rennen sehr aktiv. Leider stürzte Terpstra dann bei der Ronde schwer und musste Paris-Roubaix absagen. 
Die gewachsene Bedeutung der Klassiker und die Tatsache, dass nun fast jede Mannschaft eine starke Klassiker-Fraktion aufgebaut hat, wirkt sich auf die Rennen aus.

 

Immer härter

Die Klassiker 2019 waren extrem harte Rennen. Nicht nur die Fahrer klagten im Ziel jeweils über das brutale Rennen, auch die Wattwerte belegten den Eindruck. Gent-Wevelgem war eines der härtesten Rennen der vergangenen Jahre. Vielleicht sogar das schwerste Gent-Wevelgem aller Zeiten. Sieger Alexander Kristoff leistete laut Velon mehr als 300 Watt im Schnitt, über fast fünfeinhalb Stunden!

Es gibt kein Einrollen mehr, bis die „großen Jungs“ losfahren, wie früher. Nun wird bei den Klassikern das Finale sehr früh eingeläutet. „Du kannst ne ganze Weile Vollgas fahren, schaust dich um, und alle sind noch da“, sagt Tiesj Benoot über die Klassiker. 
Ein alter Radsportspruch lautet: Die Fahrer machen das Rennen schwer. Die Leistungsdichte ist extrem geworden. Nicht sprunghaft in dieser Saison, sondern über die Jahre. Die Teams haben aufgerüstet, alle sind motiviert und das Niveau ist gestiegen. Das führt offenbar zu sehr harten Rennen.

 

Wout 2020

Im Frühjahr 2018 war Wout van Aert eine der großen Entdeckungen. Er fuhr starke Rennen und gute Ergebnisse ein. In diesem Jahr ging er mit Jumbo-Visma in die Klassikersaison und seine Rolle hatte sich geändert. Er stand im Fokus, sowohl medial (was das in Belgien bedeutet kann man sich hier kaum vorstellen), als auch im Rennen. Die Konkurrenz kannte ihn, ließ ihm keinen Freiraum. Dennoch fuhr Van Aert Top-Platzierungen ein.

Er hat sich etabliert in der Weltspitze und auch bei Paris-Roubaix gezeigt, wie stark er ist. Nach Defekt im Wald von Arenberg kam er auf der Maschine eines Teamkollegen zurück. Er stürzte noch einmal und schaffte wieder den Anschluss. In der Hektik verpflegte er sich nicht ausreichend und irgendwann waren die Lichter aus. 
Wout van Aert ist 24 Jahre alt und hat den Sprung in die Weltspitze vollzogen. Kommt er gesund durch den Winter, könnte bereits 2020 das Jahr der großen Siege werden.  

 

MvdP muss nach Roubaix

Über Mathieu van der Poel hatten wir uns vor einigen Tagen bereits hier schon ausgelassen. Der Crossweltmeister hat solch ein starkes Frühjahr hingelegt, dass man fest davon ausgehen muss, dass er in naher Zukunft ganz große Rennen gewinnt. „Bleibt dieser Kerl gesund und entwickelt sich noch weiter, kann er zusammen mit Wout van Aert & Co. eine ganze Klassiker-Epoche prägen“, schrieben wir vor einer Woche. Daran hat sich nichts geändert.

Bei Paris-Roubaix haben wir ihn vermisst. Sein belgisches Pro-Conti-Team Corendon-Circus hatte vom Veranstalter ASO keine Einladung bekommen und so konnte er nicht starten. Wäre er dabei gewesen, …. . Er hätte zumindest ein Faktor sein können und irgendwie wünschen wir uns ja immer, dass bei den besten Rennen auch die besten Fahrer am Start stehen.

Doch nun reflexhaft die Wildcard-Politik der ASO zu kritisieren wäre der falsche Weg, denn wen hätte man stattdessen ausladen sollen? Und es war nicht einmal sicher, ob er hätte beim Rennen starten wollen. Was aber bleibt, ist der Wunsch, dieses Ausnahmetalent im kommenden Jahr am Start zu sehen. Vielleicht kann ja Raymond Poulidor für seinen Enkel beim Veranstalter ein gutes Wort einlegen, damit es 2020 mit der Wildcard klappt.

 

90% Sagan reichen nicht

Eine blöde Magen-Darm-Geschichte hatte Peter Sagan in der Vorbereitung zurückgeworfen. Der Bora-hansgrohe-Kapitän war dennoch in ordentlicher Verfassung. Sonst hätte er wohl kaum am Poggio di Sanremo die Attacken mitgehen können. Doch es war im gesamten Frühjahr zu sehen, dass er nicht bei 100% seiner Leistungsfähigkeit ist.

Der Ausnahmesportler hatte in den vergangenen Jahren bei den Klassikern stets aufgetrumpft, große Siege gefeiert und die Konkurrenz oft im Griff gehabt. Doch nicht in diesem Frühjahr. Er war oft bei den besten dabei, aber eben nicht in der Lage zu agieren, wie in Top-Verfassung.

Eine Erkenntnis dieser Klassiker-Saison ist: Auch einem Ausnahmesportler wie Peter Sagan reichen keine ~90% Leistungsvermögen um bei den Klassikern Siege einzufahren!

 

EF Education First – beeindruckend stark

Mit dem Sieg von Alberto Bettiol hat das Team bei der Ronde einen ganz großen Sieg gefeiert. Seit Jahren jagte man diesem großen Erfolg bei einem der Pflaster-Monumente nach, nun war es endlich soweit. Bettiol erwischte einen Sahnetag und das Rennen lief für das Team optimal. Aber es hatte sich schon in den Wochen zuvor abgezeichnet, dass die Truppe von Jonathan Vaughters zu Großem im Stande ist.

Mit Sep Vanmarcke, aber vor allem Sebastian Langeveld und Alberto Bettiol mischte man bei den Klassikern beeindruckend mit. Langeveld beendete Omloop, E3-Preis, Ronde und Paris-Roubaix in den Top-15! Bettiol steuerte neben dem Ronde-Sieg auch Rang vier beim E3-Preis bei. Bei Paris-Roubaix hatte man mit Vanmarcke (4.) und Langeveld (10.) zwei Fahrer in den Top-10. Nach Deceuninck-QuickStep war dieses Team die stärkste Klassiker-Mannschaft und die Überraschung des Pflaster-Frühjahrs.

 

Trek-Segafredo – nur auf dem Papier stark

Schaut man sich die Fahrerliste an, sortiert man das Team Trek-Segafredo gleich in die erste Reihe der Klassiker-Teams. John Degenkolb, Jasper Stuyven, Mads Pedersen – alles richtig starke Klassikerspezialisten. Dazu holte man mit Edward Theuns einen erfahrenen Mann zurück und verpflichtete Talent Alex Kirsch. Doch am Ende der Pflaster-Saison ragt nur Degenkolbs zweiter Platz bei Gent-Wevelgem heraus. Einzig beim Scheldeprijs gelang ein weiteres Top10-Resultat. Viel zu wenig für eine solche Truppe, in der vor einigen Jahren noch Cancellara Monumente gewann.

Degenkolb hatte man für die flachen Rennen, Gent-Wevelgem und Paris-Roubaix als Kapitän am Start, beim Rest sollten Stuyven und Pedersen glänzen. Doch Stuyven gelang kein einziges Top-10-Resultat und bei Pedersen, 2017 immerhin Zweiter der Ronde van Vlaanderen, lief es überhaupt nicht. Dazu das Pech von Degenkolb bei Paris-Roubaix, wo ihm ein Problem mit dem Sattel wohlmöglich eine bessere Platzierung kostete.

So steht nur der zweite Platz von Gent-Wevelgem zu Buche und man muss aufarbeiten, woran es lag. Dass Alex Kirsch gute Helferdienste leistetet, ist ein schwacher Trost. Degenkolbs Vertrag läuft Ende 2019 aus, die von Stuyven und Pedersen laufen noch bis Ende 2020. Wenn man die Klassiker 2019 analysiert hat, wird man einen Plan für das nächste Jahr machen. Ein Frühjahr wie das 2019 passt nicht zum Anspruch des amerikanischen Teams.