Nibali vor Carapaz

 

Der stärkste Mann trägt Rosa

Auf der 13. Etappe, der ersten schweren Bergankunft dieses Giros, nutzte Richard Carapaz die Rivalität von Primoz Roglic und Vincenzo Nibali. Während sich die beiden Top-Favoriten gegenseitig belauerten, stiefelte Carapaz davon und machte Zeit gut. Nur einen Tag später holte er sich das Rosa Trikot. Am Ende der Vollgasetappe setzte er am Colle San Carlo seine Attacke und zog davon. Auch diesmal profitierte er zwar in der Folge von der Rivalität der Konkurrenz, aber sein Antritt bergauf hatte sichtbar mehr Wirkung, als Nibalis Angriffe zuvor. Spätestens seit diesem Tag scheint klar, dass Richard Carapaz aktuell der stärkste Bergfahrer ist. Seit Sonntag besteht Gewissheit über die Form des Ecuadorianers. Denn er war nicht nur der einzige Fahrer, der Nibalis Attacke am Civiglio mitgehen konnte, sondern er schaffte es auch nach der Abfahrt, die Lücke zu Nibali zu schließen, nachdem dieser sich bergab abgesetzt hatte. Carapaz ist aktuell wohl der Stärkste der Favoriten. Er trägt das Rosa Trikot und hat eine bärenstarke Mannschaft. Aber nun lastet der Druck des Favoriten auf seinen Schultern und mit Blick auf das Zeitfahren am letzten Tag, muss er seinen Vorsprung wohl eher ausbauen, als verteidigen, um am Ende die großartige Sieger-Trophäe in Empfang zu nehmen. Man darf gespannt sein, wie er die Rolle des Leaders nun ausfüllen kann.

      

Bergspektakel – es wird einfach immer spannender 

Nibali vor Carapaz

Mit jeder Bergetappe rückten die Favoriten in der Gesamtwertung enger zusammen. Eine perfekte Dramaturgie für ein Rennen, dass sich nach eher zähen eineinhalb Wochen zu einem Spektakel entwickelt hat. Der Kampf um Rosa wird von Tag zu Tag spannender, eine Prognose für das abschließende Podium immer schwieriger. 

Durch die zwei Zeitfahren in der ersten Woche lag Primoz Roglic in der Gesamtwertung herausragend gut. Doch nun haben die starken Kletterer Boden gut gemacht. Landa ist zurück im Kampf um das Podium, sein Teamkollege Carapaz hat das Rosa Trikot übernommen und Vincenzo Nibali wird wohl erst auf der Heimreise aufhören zu attackieren. Frühestens. Und selbst Simon Yates scheint trotz fünf Minuten Rückstand noch längst nicht aus dem Rennen, so stark, wie er sich in den vergangenen beiden Tagen präsentierte.

Dass dieser Giro zu einem Spektakel geworden ist, liegt an den Fahrern. Es wird nicht, wie bei der Tour, das Rennen erstickt, sondern munter attackiert. Ob das anders gewesen wäre, wenn Ineos mit Bernal im Rennen wäre, bleibt Spekulation. Die Favoriten des Giro sind auf einem ähnlichen Niveau und sie versuchen, die Chance auf den Sieg eher zu suchen, als eine gute Platzierung abzusichern. Bei der Tour de France ist meist nach der ersten Bergankunft klar, wer der große Favorit ist. Dann kontrolliert das Team des Spitzenreiters und irgendwie hält nur die Chance auf einen Einbruch noch ein wenig die Spannung oben. Überspitzt, klar, aber es soll die Besonderheit des Giro hervorheben. „Alles was zählt, ist der Sieg“, sagt Nibali und so wird gefahren. Es wird das Risiko eines Einbruchs in Kauf genommen, um die Chance zu suchen. Das betrifft fast alle Fahrer und daraus entwickelt sich das spektakuläre Rennen. Miguel Angel Lopez und Mikel Landa greifen früh an, Ilnur Zakarin geht in eine Fluchtgruppe und Simon Yates probiert es immer wieder – das zieht Reaktionen nach sich, die das Rennen spektakulär machen.

Vermutlich wird es so weitergehen, denn die Abstände in der Gesamtwertung sind nicht riesengroß und das Zeitfahren am Schlusstag haben alle Fahrer im Hinterkopf. Richard Carapaz ist wohl aktuell der Stärkste, aber bei diesem Giro scheint alles möglich. Für die Fans ist es ein Genuss.

Die Gesamtwertung:
1. CARAPAZ Richard Movistar Team         64:24:00
2. ROGLIČ Primož Team Jumbo-Visma            0:47
3. NIBALI Vincenzo Bahrain Merida                 1:47
4. MAJKA Rafał BORA – hansgrohe                   2:35
5. LANDA Mikel Movistar Team                         3:15
6. MOLLEMA Bauke Trek – Segafredo              3:38
7. POLANC Jan UAE-Team Emirates                  4:12
8. YATES Simon Mitchelton-Scott                      5:24
9. SIVAKOV Pavel Team INEOS                          5:48
10. LÓPEZ Miguel Ángel Astana Pro Team       5:55

Das komplette Klassement bei Procyclingstats.

 

Noch ist es taktisch, bald wohl nicht mehr

Nibali & Roglic

Primoz Roglic ist der große Favorit auf den Sieg, spätestes seit Simon Yates Schwächen zeigte. Roglic liegt in der Gesamtwertung sehr gut, und wird am Schlusstag beim Zeitfahren der Konkurrenz wohl erneut Zeit abnehmen. Die Ausgangsposition war für Roglic vor drei Tagen noch deutlich besser. Da lag er 1:44 min vor Nibali und 3:16 vor Carapaz. 

Mit diesem Polster konnte Roglic taktisch agieren. Er konzentrierte sich auf Nibali und überließ es dem Italiener, seine Chancen zu wahren und der Konkurrenz hinterherzufahren. Ein gefährliches Spiel, das nicht aufging. Nibali will den Giro gewinnen, der Rest ist ihm egal. Und er hat keine Lust darauf, sich vor einen anderen Karren spannen zu lassen. So machte er Roglic deutlich, dass er bereits eine ganze Trophäensammlung hat, und Roglic diese gern zeigen könnte. Die Botschaft: Wenn du gewinnen willst, dann fahr selbst, ich fahre mein Rennen auch ohne dich, und zur Not bin ich eben nicht Gesamtsieger, aber du auch nicht.

Für Carapaz war die Rivalität perfekt und er wusste sie zu nutzen. So verspielte Roglic sein Polster und darf sich nun keinen Fehler mehr erlauben. Durch das Pech vom Sonntag, als sein Teamauto zur Pippi-Pause hielt, während er ein Problem mit der Schaltung hatte und dann mit dem Rad seines Kollegen weiterfahren musste, liegt nun auch Nibali bedrohlich nahe im Gesamtklassement

Doch man darf Roglic hier keinen taktischen Fehler vorwerfen. Er fährt um den Sieg und hat keine sehr starke Mannschaft für die Berge dabei. Er sah sich im Zwang, taktisch zu agieren und konzentrierte sich nachvollziehbar auf den schärfsten Konkurrenten. Dass er bereits auf der Etappe nach Pinerolo im Finale die Tempoarbeit verweigerte, war ungeschickt. Er sendete damit ein Signal der Übermacht aus, dass die Konkurrenz nur noch mehr anstachelte. 

Doch nun ist die Zeit des Taktierens vorbei. Das Polster ist aufgebraucht, er muss nun selbst agieren, will er nicht noch weiter zurückfallen. Er darf Carapaz nicht mehr Vorsprung geben und muss dabei Nibali im Auge behalten. Auch Landa und Majka bleiben gefährlich. Die schweren Bergetappen der Schlusswoche werden zeigen, wer der Stärkste ist. Eine defensive Taktik scheint nicht sehr vielversprechend. 

 

Roglic vs Nibali – Rennplan vs alte Schule?

Nibali & Roglic
 

Das Duell von Primoz Roglic und Vincenzo Nibali gibt diesem Giro ein wenig extra Würze. Roglic kam nach einem herausragendem Frühjahr als Top-Favorit zum Giro und ist nach seinen exzellenten Zeitfahren zu Beginn der Rundfahrt um Kontrolle bemüht. Er wirkt selbstbewusst, bedacht und voll fokussiert. Manchmal auch kühl, distanziert und bei diesem Giro auch stets kalkulierend. Wegen seiner Zeitfahrstärke und seines Stils packt man ihn schnell in die Schublade der unemotionalen Wattrechner. 

So wäre er der perfekte Gegenspieler für Vincenzo Nibali. Denn der „Hai von Messina“ ist ein Instinktrennfahrer. Nibali greift an, wenn er eine Chance sieht. Er ist ein Profi der alten Schule, inspiriert von Contador und anderen Fahrern, die nicht nur nach Watt, sondern auch nach Gefühl fahren. Spektakulär sind Nibalis Attacken, ob in den Abfahrten, oder am Poggio bei Mailand-Sanremo. Nicht immer sind seine Aktionen erfolgreich, aber er hat einen herausragenden Renninstinkt und scheut kein Risiko.

Primoz Roglic kann gar kein Rennfahrer der alten Schule sein, denn er ist erst spät, mit 21 Jahren, zum Radsport gekommen. Doch auch er ist ein echter Racer. Roglic ist physiologisch ein Megatalent und er ist enorm ehrgeizig. Er weiß genau was er will und schickt seine Freundin an manchen Tagen ins eher langweilige Etappenziel und nicht an einen Berg, weil er weiß, dass er jubeln wird. Roglic kennt seine Stärken, weiß genau, was er braucht, um zu gewinnen. Glaubt er, es ist besser abzuwarten, macht er dies. Glaubt er, er muss in die Offensive gehen, tut er dies genauso. Er hat bei einigen Rennen bereits gezeigt, dass er nicht der abwartende Wattrechner ist, wie vielleicht ein Chris Froome. Roglic will gewinnen, dass ist sein Antrieb. Er hörte mit dem Skispringen auf, weil er nicht der beste der Welt werden konnte. Seine Ziele sind nie niedrig gesteckt. 

Bislang hat Roglic einen Vorsprung verteidigt, mit dem Wissen um seine Zeitfahrstärke. Niemand sollte überrascht sein, wenn der Slowene plötzlich seine Taktik ändert und selbst in die Offensive geht. Extrem ehrgeizig, furchtlos und besessen von der Vorstellung, diesen Giro zu gewinnen – so gegensätzlich sind Roglic und Nibali nicht.

 

 

Ciclamino – ach ja, da war was   

Arnaud Demare im Ciclamino

Fünf Tage ist es her, da sprintete Pascal Ackermann trotz heftiger Schürfwunden auf Etappenplatz drei in Novi Ligure und musste das Maglia Ciclamino an Arnaud Demare abgeben. Doch nach dem Spektakel in den Bergen erscheint es, wie aus einem anderen Rennen. Gavira, Viviani, Ewan, Mareczko, Nizzolo …. eine ganze Reihe von Sprintern hat den Giro verlassen. So kämpfen „nur noch“ Arnaud Demare und Pascal Ackermann um das Sprinttrikot. Doch ein echter Kampf scheint es nicht mehr zu sein, mangels Möglichkeiten. Ob nun Demare beim Zwischensprint mal einen Punkt mehr bekommt, oder Ackermann einen Zähler mehr holt, hat wenig Bedeutung. Der Abstand zwischen den beiden beträgt zwar nur 13 Punkte, doch das ließe sich nur aufholen, wenn es noch einmal einen Massensprint geben könnte. Doch die Chancen stehen schlecht. Nur das Profil der 18. Etappe würde einen Massensprint ermöglichen, aber Bora-hansgrohe müsste wohl allein den Ausreißern hinterher jagen. Denn viele Sprinter sind nicht mehr im Feld und Groupama-FDJ wird das Trikot nicht unnötig riskieren wollen. 

So werden Ackermann und Demare in der schweren Schlusswoche wohl vor allem darum kämpfen, nicht aus dem Zeitlimit zu fliegen. So spannend der Kampf um den Gesamtsieg bis zur letzten Sekunde auch bleiben wird, den beiden verbliebenen Sprintern hätte man eine Flachetappe zum Abschluss auch gegönnt. Nicht nur als Belohnung für die Schinderei in den Bergen, sondern auch als Chance auf ein letztes Duell um das Ciclamino.