Tom Boonen (Foto: Roth&Roth)

Info: Teile dieses Textes sind 2017 entstanden & waren bereits veröffentlicht.

Abschiedsparty

Es war sein letztes Rennen. Paris-Roubaix 2017. Natürlich Roubaix. Dieses Rennen passte perfekt zum großen Abschied. Tom Boonen hat es über Jahre geprägt. Sein Stern ging auf dem Pflaster der „Hölle des Nordens“ 2002 auf, und genau dort trat er als einer der größten Klassikerfahrer aller Zeiten 15 Jahre später ab. Boonen wollte nicht leise gehen, er wollte das Pavé ein letztes Mal beben lassen. Den 5. Stein gab es als Abschiedsgeschenk nicht. Bonnen wurde 13.

Ein echter Champion

Das Internet ist voll mit Texten über Boonen und seine außergewöhnliche Karriere. Sein WM-Titel, das Grüne Trikot, 3x Flandern, 4x Roubaix, 113 Siege als Profi – beeindruckend, ohne Frage. Aber mit Tom Boonen verlässt auch ein echter Champion und fairer Sportsmann das Peloton. Man muss die wilde Zeit des „Tommeke“ nicht ignorieren um in ihm einen großartigen Sportler und Idol zu sehen. Kokain-Affäre, junge Frauen, schnelle Autos – auch das gehört zu seiner Biografie. Versetzt man sich in die Lage eines jungen Ausnahmeathleten, der mit Anfang 20 zum Nationalhelden wird, kann man verstehen, dass die Welt leicht aus den Fugen gerät. Kritisieren kann man es trotzdem. Tom Boonen ist gereift, er ist erwachsen geworden, Vater. Die Leidenschaft für den Sport hat er bis zum letzten Rennen behalten, wie er sie zu Beginn seiner Karriere hatte, erzählen Kollegen. Sie beschrieben ihn als fairen Sportsmann, Mann mit Bodenhaftung, unkompliziert. 

Immer im Fokus

Will man sich als Journalist ein Bild machen, tritt man zuweilen in den Hintergrund, beobachtet, statt Fragen zu stellen. Aus den Eindrücken formt sich ein Bild und meist bleiben ein paar Begegnungen und Situationen im Gedächtnis, die für diese Person stehen.
Bei Tom Boonen beeindruckt schnell seine Geduld, mit der den Fans Autogramme gibt, oder Selfies macht. Wie er auch nach enttäuschenden Rennen nicht den Frust an Zuschauern rauslässt, wie man es selbst bei Jens Voigt beobachten konnte. Vielleicht war ich nur immer zufällig nicht dabei, aber ich habe Boonen nie unberechtigt Fans anpflaumen sehen. 

Drei Momente 

Für mich gibt es drei Momente mit Tom Boonen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Im Jahr 2006 musste Boonen bei Paris-Roubaix eine herbe Schlappe einstecken. Gegen Fabian Cancellara war kein Kraut gewachsen. Boonen war selbst enttäuscht, die Erwartungen waren enorm, mit Kritik wurde nicht gespart. Im Nebenraum der historischen Duschen war damals noch die Pressekonferenz. Im völlig überfüllten Raum beantwortete Cancellara bereits die Fragen der Journalisten, als Boonen den Raum betrat. Er ging leise an den Tisch von Cancellara, machte eine entschuldigende Geste für die Störung und gratulierte fair. Eine ehrliche Geste, ohne Schnörkel oder Theatralik.
Im gleichen Jahr litt Boonen während der dritten Woche der Tour de France. Ein Etappensieg war ihm nicht geglückt und er hatte gesundheitliche Probleme. Auf der schweren Etappe nach Alpe d’Huez musste er auf halbem Weg zum Col du Lautaret widerwillig die Segel streichen. Boonen stoppte, klickte aus, wendete sich ab. Wir stiegen aus dem Besenwagen und der Kommissär nahm ihm die Rückennummer ab. Es war ihm anzumerken, dass er einfach nur weg wollte. Die Fotofragen machten pausenlos Bilder, die TV-Kameras hielten drauf. Bevor Boonen ins Auto stieg und endlich seine Ruhe hatte, bedankte er sich noch bei seinem Teamkollegen Steven de Jongh, der bei ihm geblieben war. 
Beeindruckt hat mich auch die Pressekonferenz von Paris-Roubaix 2016. Vielleicht sogar seine größte Niederlage. Er hatte den fünften Triumph vor Augen und machte einen bitteren Fehler, als er sich im Sprint einbauen ließ. Alle Journalisten stellten die Fragen nach seinem Fehler, nach der vertanen Chance. Fragten, ob er das denn auch selbst als unfassbar bitter empfände. Boonen saß da, sprach leise, aber bestimmt und antwortete auf die Fragen. Keine Ausreden, keine Geschwafel, keine Parolen. Er saß da, gratulierte dem Sieger und sagte seine Meinung. Er dankte seinen Teamkollegen und den Fans, aber nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern von Herzen. Ich bin fest davon überzeugt – hätte er an diesem Tag gewonnen, hätte er sofort seine Karriere beendet. Als fünffacher Roubaixsieger. Auch ihm wird dieser Gedanke gekommen sein.
Es war eine dieser Pressekonferenzen, in die man mit Mitgefühl, an der Grenze zum Mitleid geht. Aber es war ein Moment der Fairness. Mir persönlich ist eigentlich egal, wer gewinnt, wenn es ein tolles Rennen ist und alles fair abläuft. Ich kann mit reinem Gewissen sagen, dass manche Fahrer einem menschlich sympathischer sind, als andere – bezogen auf die Rennen und Resultate spielt das für mich „im Job“ keine Rolle. Aber nach dieser Pressekonferenz 2016 habe ich gedacht, ich würde es ihm gönnen, mit einem Sieg abzutreten.

Franco Ballerini – Paris-Roubaix 2001

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Boonen ging in Rente, Paris-Roubaix bleibt für die Ewigkeit

Für jeden Radsportfan kommt die Zeit, in der Idole abtreten. Es fühlt sich an, als könnten die Rennen nie wieder so sein wie zuvor. Das macht eben Idole aus. Stars gibt es viele, und alle wollen heute „Marken“ sein. Früher hieß es nicht so, aber es war das gleiche gemeint. 
Doch Idole waren nur ganz wenige Fahrer. Nur sie erreichten diesen Status des „Unwegdenkbaren“. Merckx, ganz sicher. Wohl auch Coppi und Co., vor meiner Zeit. In den vergangenen Jahren waren das für mich nur Indurain, vielleicht Bettini. Aber Tom Boonen gehörte für viele Fans wohl in diese Kategorie. Die Klassiker ohne Boonen waren unvorstellbar, aber schon 2018 war Roubaix wieder Roubauix – mit neuen Helden.
Doch Boonen hat sich seine Einzigartigkeit bewahrt. Weil er es richtig gemacht hat. Er hat aufhört, während er zu den Besten gehörte. Kein letztes Jahr, bei einem Scheich-Team, für noch mehr Ferraris. Sondern Vollgas, bis ins Velodrome. Dann ist Schluss. Ein Comeback würde dieses Bild des „Tommeke“ nur beschädigen. Ich würde ihm davon abraten, so gern ich es sehen würde, wenn er am Limit mit dem ganzen Oberkörper „vorwärts-ruckt“. 
Tom Boonen hatte einen großartigen Abschied, bei der Ronde van Vlaanderen in Antwerpen und auch nach Roubaix. Die Abschiedsparty ist legendär. Man würde jedem Fahrer solch Abschied wünschen, doch dieser ist nur die Allergrößten vorbehalten.