Fabian Wegmann

Der 100. Giro di Lombardia, 14. Oktober 2006. 


Diesen Tag werde ich sicher nicht vergessen. Und zugegeben, ich denke nicht nur heute daran zurück. Sondern immer wieder. Es war ein großartiger Renntag, vielleicht der beste meiner langen Karriere – aber die Erinnerung hat auch eine schmerzvolle Seite.

Rucksack voller Selbstvertrauen

Ich bin mit Vorfreude und viel Selbstbewusstsein zu den italienischen Herbstklassikern gereist. Ich mag das Land, die Küche, die Sprache – und vor allem auch den superglatten Asphalt. Ich bin kein Watt-Monster, deshalb kommt es mir einfach entgegen, wenn es rollt. Im Training zuvor, daheim im Schwarzwald, lief es schon gut. Mit „Michel“ (Rich) und „Heino“ (Haussler) sind wir viel Mountainbike gefahren. Ich spürte, dass es läuft. An einem Berg sind wir schon richtig schnell gefahren, dann habe ich einfach drei Gänge dicker geschaltet und war weg. Das Schimpfen der Kollegen war Musik in meinen Ohren.

Hallo wach – wo willst du noch hin?

Die Lombardei-Rundfahrt ist gigantisch. Am Abend zuvor liegst du im Bett, blätterst das Roadbook durch. Du liest auf der letzten Seite die klangvollen Namen, die es aufs Podium geschafft haben. Noch keinem Deutschen war das gelungen!
Ich erinnere mich genau, wie wir morgens zum Start gefahren sind. Ich saß bei Christian Henn im Auto und er sagte mir, dass der Streit um die ProTour schärfer wurde und die Teams beschlossen hatten, sämtliche Zeremonien zu boykottieren. Unser Kapitän war Davide Rebellin, der für dieses Rennen immer extrem motiviert war. Aber ich hatte eine freie Rolle, sollte im Finale auf jeden Fall dabei sein und möglicherweise Davide helfen.
Die ersten Kilometer ging es damals flach am Comer See entlang. Bei einem Rennen von 250 Kilometern war ich genau dort, wo ich die erste Stunde immer verbracht hab – ganz hinten. Ich kannte jeden Meter der Strecke, war sie mehrfach abgefahren und wusste, wann es losgehen würde. Die ersten 100 km sollte es einfach nur rollen. Doch dann gab es einen Sturz. Ich landete in einem Erdhügel. Nicht schlimm, aber ich wollte schnell wieder hinterher. Leicht panisch zog ich mein Rad aus dem Haufen. Eric Baumann sah mich da hektisch fummeln und sagte noch: „Wo willst du denn heute noch hin?“. Ich sagte nur: „Ich will gewinnen“ und schwang mich aufs Rad.

Abgehängt

Damals war die Strecke etwas leichter, als heute. Es war mehr ein Rennen für Klassiker-Spezialisten, als für echte Bergfahrer. Das kam mir entgegen. Auf dem Parcours von heute wäre ich chancenlos. Nach dem kurzen Schock des Sturzes war ich hellwach. Ich habe das Gefühl, ich war noch konzentrierter, als normal. Ich hatte mich nicht verletzt, war auch nicht schwer gefallen und spürte somit keine Schmerzen. Aber ich wollte unbedingt alles richtig machen und vielleicht bin ich sogar noch cleverer gefahren, als ich es ohne dieses Malheur getan hätte.

Vollgas – Fabian bei der Lombardei-Rundfahrt 2006

Der Ghisallo war der schwerste Berg damals. Ich kenne diesen Anstieg in- und auswendig. Unten brutal steil, dann wird es flacher. Es folgt der Abschnitt, wo es sogar leicht bergab geht, dann die letzte Rampe zur Kapelle. Für mich war die Steigung zu lang, um mit den Besten drüber zu fahren. Ich konnte zwar für 30 Sekunden 800 Watt treten, aber war eben kein Typ, der 10 Minuten 450 Watt halten kann. Ich wurde von den großen Favoriten abgehängt, aber bin mein Tempo gefahren. In die Abfahrt gingen wir mit einer kleinen Gruppe, blieben aber voll auf dem Gas. Wir mussten wieder ran und schafften es tatsächlich. Die Beine kreiselten, ich fühlte mich gut – einer dieser Tage, die einfach herrlich sind.

Bettinis Bruder

Mit vielleicht 20 Fahrern fuhren wir weiter in Richtung Civiglio, dem vorletzten Anstieg. Eine fiese Rampe. Alle haben auf Paolo Bettini geschaut. Er war gerade Weltmeister geworden und hatte wenige Tage zuvor seinen Bruder verloren. Er wollte dieses Rennen unbedingt gewinnen, das war allen klar. Dann kam seine Attacke. Er trat an und zog davon. Niemand setzte nach. Ich schaute mich um. Wir fuhren nicht langsam, aber ich hatte noch etwas in mir. Als ich sah, dass auch von Rebellin nichts kommt, bin ich los. Vollgas.
Am Gipfel hatte ich noch eine kleine Lücke. Ich wusste, dass ich unten dran sein muss, sonst zieht er in der Ebene durch, wäre weg und ich würde verhungern. Die Abfahrt ist schmal und nichts für schwache Nerven. Ich habe alles riskiert, wollte unbedingt an sein Hinterrad. Tatsächlich schaffte ich den Anschluss.
 

Regulare, regulare

Bettini wollte dieses Rennen gewinnen – nichts und niemand konnten ihn daran hindern. Er ballerte einfach gen Ziel. Es war ihm dabei egal, ob noch jemand an seinem Hinterrad war. Aber auch ich hatte einen Tag, wo es einfach lief. Einer dieser Tage, wo du am Limit fährst und einfach draufbleiben kannst. Ich bin mit durch die Führung gegangen, aber es war eindeutig, wer der Stärkere ist. Einem Fahrer wie Bettini war klar, dass er auf meine Führungsarbeit zählen kann, wenn er mich mitnimmt. „Regulare, regulare“ – ich wollte unbedingt dranbleiben!

10 Sekunden

Bis zum letzten Anstieg blieben wir vorn. Hinter uns eine kleine Gruppe in der auch Rebellin war – das war gut für mich, denn er würde nicht nachführen. Wir fuhren durch Como und dann ging es in die letzte Steigung. Fast drei Kilometer lang und unten nicht extrem steil. Wir flogen am Schild mit der 7km Marke vorbei. Links rum – kurz danach ging die Lücke zu Bettini auf. Ich hatte einen Mega-Tag, aber ich konnte das Rad nicht halten.  Es war nicht viel, aber die Lücke war da. Ich hab unfassbar gelitten und bin gefühlt eine Ewigkeit 30 Meter hinter ihm hergefahren. Ich kann es wieder fühlen, wenn ich mir das Video jetzt noch einmal angucke.

Oben waren es noch fünf Kilometer bis zum Ziel und ich hatte kaum mehr als 10 Sekunden Rückstand zu Bettini. Ich bin an der Schwelle hoch und wusste, ich kann ein Mal richtig tiefgehen und versuchen, ranzuspringen, aber eben nur ein Mal. Doch es ging oben flach weiter und nicht direkt in die Abfahrt. Ich hab es versucht, aber es ging nicht. Es blieben 5 Sekunden Lücke.

Den versäge ich!

In der Abfahrt bin ich voll gefahren. Ich hatte keine Info, keinen Funk. Ich habe mich nicht umgeschaut, bin einfach voll gefahren. Plötzlich kommt Samuel Sanchez von hinten und zog vorbei. Ich war im ersten Moment total enttäuscht. Aber es war nur einer – das Podium war klar. Ich bin ans Rad und wir haben durchgezogen. Bettini jubelte vor uns unter Tränen und wir kämpften um Rang zwei.
Ich bin 300 Meter vor dem Ziel angetreten und dachte: den versäge ich! Aber dann konnte er plötzlich 100 Meter vor dem Ziel noch einmal zünden. Es fehlten mir am Ende 10 cm, aber ich war auf dem Podium – bei der 100. Austragung eines der fünf Monumente.

Enttäuschung

Erst dann wurde mir klar, dass ich gar nicht auf dem Podium stehen würde. Ich erinnerte mich an die Worte von Christian Henn vor dem Rennen. Am Morgen hatte ich noch leichtfertig gesagt, dass ich mich aber ärgern würde, wenn ich es aufs Podium schaffen würde. Nun war es Wirklichkeit. Ich konnte es nicht fassen.
Das war vielleicht mein bester Tag auf dem Rad, ein Erfolg, der mich glücklich machte, und extrem stolz. Wer jetzt das Roadbook durchblättert, liest meinen Namen. Doch es gibt keine Trophäe, nicht mal ein Foto, wie ich neben dem Weltmeister auf dem Podium der Lombardei-Rundfahrt stehe, das schmerzt bis heute. Doch die Erinnerung an diesen Tag, an dem Radfahren so unfassbar viel Spaß gemacht hat, wird ewig bleiben.