102. Tour de France, Etappe 17, 22. Juli 2015 


Wer meine Karriere etwas verfolgt hat, wird schnell drauf kommen, was mein außergewöhnlichster Renntag war. Aber mir fällt es gar nicht so leicht, die Frage nach dem „besten Tag auf dem Rad“ zu beantworten – denn es gab eine ganze Menge toller Tage! Auch einige bei der Tour de France. Die letzte Etappe meiner ersten Tour beispielsweise. Aber klar, es gibt diesen einen Tag, der mein Leben verändert hat. Der 22. Juli 2015.
Es war der Auftakt in die Schlusswoche der Tour. Nach einem Ruhetag weißt du nie so genau, ob du Diamantenbeine hast, oder einen richtigen Huf dran. Es war klar, dass eine starke Gruppe gute Chancen hätte, den Tagessieg unter sich auszumachen. Wir sind als Team zu Beginn jede Attacke mitgegangen. Irgendwann waren dann auch 20 Mann weg, von uns war John Degenkolb dabei. Das Tempo bei uns im Feld war komplett raus. Sky hatte Richie Porte vorn dabei und so auch kein übersteigertes Interesse an einem hohen Tempo.

Danke Wawa

Ich hab es Warren Barguil zu verdanken, dass ich doch noch meine Chance bekommen habe. „Wawa“ war 13. in der Gesamtwertung und wir wollten versuchen ihn in die Top10 zu bringen. Ich war der Mann an seiner Seite, sollte eigentlich bis zum vorletzten Berg bei ihm sein. Ich schaute zu Warren rüber, und er gab mir das Zeichen, dass ich hinterher fahren soll. Zack, bin ich los. 

Auf dem Sprung – hier Etappe 16

Ich kam vorn an und wir sind voll gekreiselt. Die Gruppe war richtig stark besetzt. Neben Porte waren Steven KruijswijkMathias Frank, Rigoberto Uran und auch Thibaut Pinot mit dabei. Es war klar, dass sie uns jetzt nicht komplett ziehen lassen werden, aber irgendwie hatte das Feld dann doch etwas mehr Tempo aufgenommen. John und ich hatten uns abgesprochen, dass wir für ihn beim Zwischensprint fahren. 

Mein Plan

Eigentlich war ich an diesem Tag gar nicht so heiß drauf, in die Gruppe zu gehen. Ich war damals eigentlich noch mehr der Amstel-Fahrer – also explosiver, aber an den langen Anstiegen weniger stark. Es ging über mehrere Berge und der vorletzte war der Col d’Allos. Ein ewig langes Ding. Ich musste mit Vorsprung in diesen Berg gehen, um gegen die echten Kletterer wie Pinot eine Chance zu haben. Also war mein Plan: Dege bis zum Sprint bringen, und dann sofort attackieren. Meist ist nach einem solchen Sprint erstmal die Luft raus, dass ist ein guter Moment. Ich dachte, wenn 2-3 Jungs mitgehen, können wir mit Vorsprung vor Pinot & Co in den Allos. Aber es kam keiner mit. Klar, 50 km vor dem Ziel ist echt weit.

Die Verfolger – Mathias FRank und Thibaut Pinot

Allein, allein

Das ging wohl einigen in der Gruppe durch den Kopf. Aber genau das war meine Chance. Ich wollte etwas Beklopptes probieren, das war mir erstklassig gelungen. Sie schauten sich hinten an, keiner wollte so richtig fahren. Ich fühlte mich gut. Diamantenbeine. Definitiv. Ich hatte nichts zu verlieren, war vor dem Ruhetag schon Vierter, hatte „mein Ergebnis“ schon in der Tasche. Dazu war Rückenwind bis zum Allos. Es kam alles zusammen.

Pacing

Ich weiß ziemlich genau, was ich an der Schwelle fahren kann. Es war ein Einzelzeitfahren – immer an der Schwelle, solange, wie es reicht. Ich bin sonst kein Fahrer, der viel auf den Powermeter schaut, aber hier habe ich es gemacht. Im bin mit 2:30 min in den Anstieg. In den Kehren des Allos habe ich sie hinter mir gesehen. Ich habe versucht optimal zu pacen und im Kopf gerechnet. Eine Minute würde ich im Schlussanstieg mindestens brauchen, damit irgendwie die Chance lebt. In der Abfahrt habe ich alles riskiert und sogar Zeit gutgemacht, auch von den Fehlern der Konkurrenz profitiert. Unten hatte ich 1:30 min – die Chance war echt.

Krampfende Diamanten

Es war nur ein Kampf gegen mich. Ich haute auf die Straße, was ich hatte. Ob es reicht, entscheiden die Jungs dahinter. Im Schlussanstieg bin ich aus dem Sattel – die Muskulatur zeigte Krampfansätze. Ich musste rausnehmen. Bin erstmal nur mit 200 Watt gefahren, in der Hoffnung, dass es besser wird. Wenn du dann durchziehst, musst du am Ende vielleicht sogar vom Rad, dann macht die Muskulatur komplett zu.
Es wurde besser und zwei Kilometer vor dem Ziel war mir klar, dass es reichen wird. Ich hatte den Abstand aus dem Funk und habe gerechnet, dass Talansky hinter mir mindestens 400 Watt fahren müsste, wenn ich die 300-350 halten kann. Aber der war ja auch schon vier Stunden durch die Alpen gefahren.

Simon Geschke (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Der Blick ins Ziel – ohne Geräusche

Aus dem Funk kam irgendwann von Marc Reef die Durchsage: „Du musst dich nicht umdrehen!“. Ich hatte wohl wirklich oft nach hinten geschaut. Etwa 500 Meter vor dem Ziel habe ich dann rausgenommen. Mein Körper wollte das schon viel früher
Dieses Bild habe ich für immer fest in meinem Kopf: In der Mitte der Straße, den Blick ins Ziel. Die vielen Fotografen dahinter. In meiner Erinnerung ist das glasklar, aber Geräusche gibt es in meinem Kopf dazu keine

Simon Geschke nach seinem Tour-Etappensieg 2015 (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Alles was danach kam, ist nur noch schwammig. Ich wurde geschoben. Alle sind auf mich eingestürmt. Ich habe Interviews gegeben, war zwei Stunden nonstop beschäftigt. Wurde von einem Punkt zum nächsten geschoben. Niemand war darauf vorbereitet. Mein Telefon habe ich erst am Abend im Hotel bekommen. Natürlich gab es ein Bier.

Betonbeine

Das Trikot und die Schuhe habe ich aufgehoben. Es war wohl einer dieser Tage, wo einfach alles zusammenkommt: Die Beine, Mut, Gelassenheit und auch etwas Glück. Und ganz fest mit der Erinnerung an meinen Tour-Etappensieg sind auch die Betonbeine am nächsten Tag verbunden. Krass, wie das die Jungs schaffen, die jeden Tag nach der Etappe diese Prozedur durchmachen.
 

Bentonbeine-Abzeichen – die Rote Nummer am Tag danach