1 | Emu verliebt sich in Italien

Der Giro d’Italia ist die schönste Rundfahrt Welt. Das wissen wir alle. Die Tour ist groß und macht die Stars, aber sie ist nervig und langweilig. Der Giro ist das Gegenteil. In Italien wird das Radrennen geliebt, nicht das Event. Die Berge sind steil, das Rennen weniger hektisch, der Espresso besser – Emanuel Buchmann wird sich Hals über Kopf verlieben.

Keine Reporterfragen zur Farbe des Kopfkissens, sondern ein Treffen der Sportler-Egos, die im Trubel der Tifosi höher als die Dolomiten-Riesen wachsen. Hart, aber herzlich, für jedes Chaos zu haben und der Rote Teppich für Kletterer wie Buchmann. Hach, Giro.

Mit jeder Bergetappe wird der „ruhige Deutsche“ den Italienern ein wenig näher ans Herz wachsen. Und mit jedem Espresso vor Etappenstart wird Rosa ein klein wenig schöner erscheinen. Steigt Emu am 30. Mai das letzte Mal von einem der Treppchen der Siegerehrung, wird er es kaum erwarten können, erneut zum Giro reisen zu dürfen. Denn Liebe beflügelt.

 

2 | Deceuninck-QuickStep mit Klassikerproblemen

Es ist DIE Klassiker-Equipe, DAS Pflaster-Team im Peloton – Deceuninck-QuickStep. In den vergangenen Jahrzehnten bestimmten sie diese Rennen, fuhren von Triumph zu Triumph. Bei fast der Hälfte der Pflaster-Monumente (Ronde & Roubaix) der vergangenen 20 Jahre holte man den Sieg.

Doch im aktuellen Kader ist kein Fahrer mehr, der wenigstens eines der beiden Pflaster-Monumente gewann. Boonen, Terpstra, Gilbert – alle nicht mehr im Team. Dafür sind andere Fahrer nachgerückt und Qualität ist durchaus vorhanden – Kasper Asgreen, Zdenek Stybar, Yves Lampaert, Florian Sénéchal und auch das deutsche Klassikertalent Jannik Steimle.

Dennoch, das Team wird auf „ihrem“ Terrain Probleme bekommen. Denn mit Wout van Aert und Mathieu van der Poel gehören die aktuell besten Spezialisten zur Konkurrenz. Dazu hat das Team AG2R Citroën brutal aufgerüstet und ist nun mit Greg Van Avermaet, Oli Naesen, Stan Dewulf, Bob Jungels, Michael Schär & Co eine echte Macht. Lotto-Soudal hat mit Gilbert und Degenkolb zwei Top-Fahrer, Bora-hansgrohe ist mit Sagan und Politt brutal stark, …. die Konkurrenz für das Team von Patrick Lefevere ist in diesem Jahr extrem.

Die Pflasterherrschaft von QuickStep wird 2021 beendet. Zumindest vorübergehend. Der Spannung ist die hoffentlich nicht abträglich.

 

3 | Der neue Remco bittet zum Tanz

Über sein Talent müssen wir nicht diskutieren. Über seinen Ehrgeiz ebenfalls nicht. Doch der Remco Evenepoel, der irgendwann 2021 zurück ins Renngeschehen kommt, wird stärker sein, als dieser brutale Überflieger, den man von 2020 noch als „Eddy Evenepoel“ kennt. Denn der superjunge belgische Wunderknabe bekommt unfreiwillig eine Lektion erteilt, die das ohnehin recht gut sortierte Champion-Gemüt noch einmal klarer strukturiert.

Evenepoel erleidet in der Reha vom Beckenbruch einen Rückschlag. Muss rausnehmen, zugucken. Mit ansehen, wie die Radsportwelt Parallelen zu Tom Dumoulin zieht und jeden Tag nachfragt, ob es seiner Hüfte denn nun endlich besser gehe.

Solch Erfahrung macht etwas mit Menschen. Und Sportler sind Menschen, auch wenn sie Lycra-Superman-Kostüme tragen. Remco wird sehen, wie privilegiert seine Normalität ist. Warum man kein Kannibale sein muss, um die Gier so stark zu spüren, dass man bereit ist Grenzen zu verschieben.

Kommt Remco zurück, wird er noch stärker sein. Viel stärker. Vielleicht unerträglich stark.

 

4 | Ineos holt Schwung

Den Giro gewonnen, Rang zwei bei der Vuelta – doch bei der Tour nicht in den Top-10. Das Team Ineos Grenadiers hatte keine schlechte Saison, aber der Anspruch der Vorzeige-Mannschaft ist stets der Toursieg. Das Ausscheiden von Egan Bernal war nicht zu kompensieren, Froome und Thomas gar nicht im Aufgebot bei der Grand Boucle. Die Tour 2020 war trotz Etappensieg eine Niederlage. 

Die Radsportwelt meldete umgehend Vollzug, in Sachen Wachablösung – Jumbo-Visma ist die neue Top-Equipe, die Dominatoren der Tour de France. Das stachelt nicht nur an, sondern verschiebt auch die Rolle. Ineos ist nicht mehr das Team, was die Kontrolle behalten und den Rest in Schach halten muss. Sie können freier agieren, die Kräfte bündeln und Jumbo-Visma die Last des Rennens übertragen. Wenn sie wollen. Der Kader des Ineos-Team hat weiterhin brutale Qualität. Sie werden 2021 zurückschlagen und die Tour an sich reißen.

 

5 | MvdP & WvA – neue Definition von Radsport

Zwei absolute Ausnahmeerscheinungen. Zwei Jungs, die für sportliche Duelle stehen, wie man sie nur selten erlebt. Der lockere Mathieu van der Poel, das Übertalent. MTB, Cross, Straße – es ist stets ein Genuss dem Niederländer zuzuschauen. Sein Rivale ist eine nicht weniger beeindruckende Erscheinung. Wout van Aert ist eine Maschine. Er drückt die Berge unter seinen Rädern mit brachialer Power weg. Stets im Dienst seiner Mannschaft, wann immer es nötig ist. Diese beiden Kerle sind ein Geschenk für den Radsport, vor allem wegen ihrer Vielseitigkeit.

Das Fahrrad als Bewegungshilfe und Sportgerät erlebt selbst in Deutschland einen Boom. Corona hilft. Die Radwege sind voll, mit Turnschuh-Rennradlern und nagelneuen Gravelbikes mit Lenkeratschen. Dabei zieht der Fahrtwind nicht nur die Oberlippenbärte breit, sondern zaubert auch immer mehr Frauen ein Lächeln ins Gesicht.

Wer sich von den „Neu-Bekehrten“ auf die Suche macht, die Grenze den Möglichen mit diesen Geräten zu entdecken, wird bei Wout van Aert und Mathieu van der Poel landen. Dies ist eine Chance für Radsport, Sponsoren, Medien und Industrie. Denn neben Superstar Sagan ist genügend Platz für sympathische Typen, die auch außerhalb der Ultra-Radsport-Bubble Interesse wecken. Frischen Wind kann der Sport sehr gut gebrauchen – die beiden Jungs können helfen, den Radsport neu zu definieren und so noch mehr Menschen zu begeistern. Die Hoffnung bleibt, dass dieser Wunsch sich 2021 erfüllt.