Der Giro ist die härteste Rundfahrt des Jahres, zumindest was Profil und Etappen betrifft. Denn mental ist die Tour sicher die größere Herausforderung. Den Streckenplanern ist ein ausgewogener Giro-Parcours gelungen, der Spannung bis zum Schluss verspricht. Vor allem die letzten 10 Tage sind wirklich hart. Es wird ein herausragender Kletterer diesen 99. Giro gewinnen, soviel steht fest. Doch Kletterstärke allein reicht nicht zum Sieg.

 

Die Favoriten für den 99. Giro d’Italia

 

Mikel Landa – der Topfavorit
26 Jahre alt, Team Sky, 2015: Platz 3

Mikel Landa (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Mikel Landa (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Mikel Landa war schon im vergangenen der Stärkere des Astana-Duos auf dem Giro-Podium. Doch der Italiener Aru war im eigenen Land der Kapitän und stand deshalb auch eine Stufe weiter oben als sein spanischer Kollege. Das ist in diesem Jahr anders, denn Landa ist alleiniger Kapitän und soll dem Sky-Team den Sieg bescheren. Titelverteidiger Contador ist nicht dabei, Aru auch nicht. Landa muss sich um die Konkurrenz eh wenig scheren, denn wenn er „sein“ Rennen fährt, ist er nur schwer zu schlagen. Seine Mannschaft ist stark genug, das Rennen zu kontrollieren. Und wenn es in die Dolomiten geht, ist Landa in seinem Element. Beim Giro de Trentino  hat der 26-Jährige gezeigt, dass er im Winter gut trainiert hat. Er wurde auf jeder Bergetappe gefühlt alle 30 Sekunden angegriffen, konnte aber immer locker mitgehen. Wenn die Konkurrenz schon im Viereck trat, konnte Landa noch einen Riegel essen. Er dürfte beim Giro der beste Kletterer sein. Hält er beim Zeitfahren den Rückstand in Grenzen, ist er kaum aufzuhalten.

 

Berg: 10/10 – Er ist der Stärkste, wenn es ganz steil wird.
Zeitfahren: 6/10 – In den flachen Zeitfahren wird er auf Uran und Nibali Zeit verlieren. Das Bergzeitfahren kommt ihm aber entgegen.
Form: 10/10 – Beim Giro del Trentino war er am Berg in einer eigenen Liga unterwegs.
Team: 8/10 – Viel Erfahrung und starke Bergfahrer.
Taktisches Vermögen: 7/10 – Individuelle Fehler sieht man bei ihm selten, aber mal abwarten, wie er mit der Kapitänsrolle zurecht kommt.

Bonus:  beeindruckende Regeneration – einen Tag am Limit, am nächster in der Attacke. Mikel Landa ist wie gemacht für die 3-wöchigen Rundfahrten.

Schwäche: Auf der Windkante oder bei extrem schlechtem Wetter könnte es für den Spanier schwierig werden, trotz starker Mannschaft.

 

Vincenzo Nibali – der Hai ist hungrig
31 Jahre alt, Team Astana, Sieger 2013

Vincenzo Nibali (Foto: ©Muscat Municipality/Paumer/Kåre Dehlie Thorstad)
Vincenzo Nibali (Foto: ©Muscat Municipality/Paumer/Kåre Dehlie Thorstad)

Vincenzo Nibali gehört zum erlauchten Kreis der Fahrer, die alle drei großen Rundfahrten gewonnen haben. Seine Stärken sind seine Vielseitigkeit und seine Angriffslust. Nibali ist ein sehr guter Zeitfahrer, ein hervorragender Abfahrer, ein Klassiker-Typ und gut am Berg. Sein Team ist vor allem in den Bergen bärenstark. Im letzten Jahr hat die Astana-Mannschaft den Giro zur härtesten Rundfahrt der letzten 10-Jahre gemacht, doch die Extraklasse des Alberto Contador verhinderte den Gesamtsieg. Fabio Aru ist in diesem Jahr nicht dabei, er soll bei der Tour aufs Podium fahren. So ist Nibali der Mann für den Giro. So wie die Strecken der Rundfahrten in diesem Jahr sind – die richtige Entscheidung des Teams, denn bei der Tour haben in diesem Jahr die Kletterer größere Chancen als in den letzten Jahren.

Nibali in Top-Form wäre der zweite Top-Favorit für den 99. Giro, auf Augenhöhe mit Landa. Doch der Hai von Messina ist längst nicht so stark wie bei seinem Sieg 2013.  Beim Giro de Trentino fuhr Nibali nur hinterher, sah in den Bergen selbst das Deutsche Meistertrikot von Emanuel Buchmann nur von hinten. Doch Nibali hat viel Erfahrung. Er weiß, wie er sich auf den letzten Tagen noch den richtigen Schliff holt. Kommt er unbeschadet durch die ersten zwei Wochen, reicht es, wenn seine Form in den letzten Tagen den Höhepunkt erreicht.

 

Berg: 9/10 – Ist Nibali in Topform, kann er am Berg den Abstand zu Landa in Grenzen halten.
Zeitfahren: 8/10 – Nibali gewann schon in der U23 eine WM-Medaille im Zeitfahren und ist immer noch stark im Kampf gegen die Uhr.
Form: 6/10 – Nibali ist nicht in der Verfassung wie bei seinem Giro-Sieg 2013 oder dem Toursieg 2014. Aber wenn er es in den letzten Wochen geschafft hat, sich zu verbessern, ist mit ihm in der letzten Woche zu rechnen.
Team: 9/10 – Die Astana-Gang ist immer stark, das konnte man im letzten Jahr bewundern.
Taktisches Vermögen: 9/10 – Vincenzo Nibali fährt immer clever und hat ein Gespür für den richtigen Moment zur Attacke.

Bonus: Vincenzo Nibali ist ein herausragender Abfahrer. Er beherrscht sein Rad perfekt und scheut kein Risiko. Dazu hat er bereits alle drei großen Rundfahrten gewonnen und kann auch mal etwas riskieren.

Schwäche: Der Hai von Messina greift gern an, abwarten liegt ihm nicht so sehr. Im Jahr 2014 hat ihm das den Toursieg gebracht, doch manchmal ist abwarten die bessere Taktik – eine echte Schwäche ist das jedoch nicht!

 

 

Alejandro Valverde – der alte Mann ohne Schwächen
36 Jahre alt, Team Movistar, Giro Debut!

Alejandro Valverde (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Alejandro Valverde (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Das Verhältnis zu Italien war für Valverde lange Zeit ein schwieriges. Nachdem die Italiener ihm bei einer Etappe der Tour Blut abnahmen und mit den Beuteln, die man bei Eufemiano Fuentes fand abglich, war Valverde kein Italienfan. Es wurde damals nachgewiesen, dass Valverdes Blut von Fuentes mit EPO präpariert war. Doch das ist lange her und der Spanier hat seine Strafe abgesessen. Nun gibt er im zarten Radsport-Renten-Alter von 36 Jahren sein Debut. Und Valverde zählt zu den Favoriten!

Der Spanier ist in sehr guter Form und hat keine Schwächen. Vor allem das im Vergleich zur Tour wesentlich unkontrolliertere Rennen sollte ihm entgegen kommen. Er hat extrem viel Erfahrung und ist ein Klassiker-Typ. Geht am Nachmittag die Post ab, schmeckt das Valverde schon morgens im Müsli. Im Vergleich mit Landa hat er jedoch am Berg deutlich das Nachsehen. Doch Valverde gibt niemals auf, das hat ihm schon zahlreiche Podestplätze eingebracht.

 

Berg: 8/10 – Valverde ist stark am Berg, doch wenn es steiler wird als 12% hat er Schwierigkeiten.
Zeitfahren: 7/10 – Der Spanier ist kein herausragender Zweitfahrer, aber bei Rundfahrten kann er auch gegen die Uhr bestehen.
Form: 9/10 – Bei den Ardennen-Klassikern konnte man sich davon überzeugen, dass Valverde mehr als nur fit und stark ist.
Team: 9/10 – Die Movistar-Mannschaft hat sehr starke Fahrer am Start. Sollte es mal windig werden oder das Wetter verrückt spielen, könnten sie das Feld komplett auseinander nehmen. In den Bergen sind sie zudem extrem stark besetzt.
Taktisches Vermögen: 10/10 – Valverde ist ein Rennfuchs.

Bonus: Auch Valverde ist ein herausragender Abfahrer und sehr endschnell. Dazu spürt er, wie das Rennen läuft und wer einen schlechten Tag hat.

Schwäche: Wird es extrem steil, bekommt der Spanier seine Probleme.

 

 

Rigoberto Uran – klappts beim dritten Anlauf?
29 Jahre alt, Team Cannondale, Zweiter 2014

Rigoberto Uran (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Rigoberto Uran, hier noch bei Omega-Pharma-QuickStep (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Rigoberto Uran war schon mit zwei verschiedenen Teams auf dem Podium des Giro. Doch der Sieg klappte weder mit Sky, noch mit QuickStep. Bei Cannondale soll es jetzt im dritten Anlauf klappen. Ist Uran wirklich stark genug für den Giro-Sieg?

Berg: 9/10 – Wird es steil, ist das 63-Kilo-Leichtgewicht in seinem Element.
Zeitfahren: 9/10 – Vor allem bei Rundfahrten mit schweren Zeitfahrkursen ist Uran extrem stark.
Form: 8/10 – Bei der Tour de Romandie zeigte sich Uran gut in Form, auch wenn er das Rennen nicht zu Ende gefahren ist.
Team: 9/10 – Uran hat starke Helfer an seiner Seite, die viel Erfahrung haben.
Taktisches Vermögen: 7/10 – Der Kolumbianer scheint manchmal mental nicht stabil genug für den Rundfahrtsieg. Mal verpasst er eine Attacke, mal greift er zu früh an.

Bonus: Seine Außenseiter-Rolle – Nibali und Landa sind die großen Favoriten. Rigoberto Uran kann abwarten und vielleicht sogar von der Astana-Sky-Rivalität profitieren.

Schwäche: Uran ist nicht der beste Abfahrer und manchmal scheint ihm die Siegermentalität etwas zu fehlen.

 

 

Ilnur Zakarin – die Überaschungsbox
26 Jahre alt, Team Katusha, 2015: 44.Platz

Ilnur Zakarin (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Ilnur Zakarin (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Ilnur Zakarin hat auch in diesem Jahr eine starke April-Form. Doch ist er auch beim Giro so stark wie bei der Tour de Romandie? Wir wissen es nicht und warten mal entspannt ab. Vor allem am Berg ist Zakarin stark.

Berg: 8/10 – Wenn er Form hat, ist er sehr stark
Zeitfahren: 8/10 – Im letzten Jahr hätte er bei der Tour de Romandie im Zeitfahren sogar Tony Martin fast geschlagen.
Form: 10/10 – Es scheint, als habe Zakarin sich perfekt vorbereitet.
Team: 8/10 – Die Katusha-Mannschaft kommt mit einem ausgewogenen Team zum Giro.
Taktisches Vermögen: 7/10 – Manchmal weiß er einfach nicht wohin mit seiner Kraft.

Bonus: Unberechenbarkeit – erst abgehangen, dann in der Attacke. Bei Zakarin weiß man nie.

Schwäche: Seine Unbeständigkeit.

 

Rafal Majka – das gereifte Talent
26 Jahre alt, Team Tinkoff, 2014: Platz 6

Rafal Majka (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Rafal Majka (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Rafal Majka ist ein echter Kletterer. Wird die Straße steil, bekommt er ein Grinsen ins Gesicht. Der Pole ist gereift, hat bei der Tour, der Vuelta und dem Giro schon gezeigt, dass er aufs Podium fahren kann. Das er nicht so stark im Rampenlicht steht, kommt ihm entgegen.

Berg: 9/10 – In absoluter Topform kann er mit Nibali und Uran am Berg mithalten.
Zeitfahren: 8/10 – Der Pole ist ein ordentlicher Zeitfahrer.
Form: 9/10 – Auch Majka hat die Tour de Romandie vor dem Giro bestritten. Er fuhr ein ordentliches Rennen, stieg dann aber vor der letzten Etappe aus. Der Pole hat sich gut vorbereitet und will endlich aufs Giro-Podium.
Team: 8/10 – Das Tinkoff-Saxo-Team ist mit sehr starken Fahrern bei der Vuelta. Doch es ist eher eine Mannschaft für Etappensiege, als ein Team für nur einen Leader.
Taktisches Vermögen: 8/10 – Rafal Majka ist bislang durch eine offensive Fahrweise aufgefallen. Große taktische Schnitzer hat er sich bisher nicht geleistet.

Bonus: Er kommt ohne Druck nach Spanien und kann von Tag zu Tag schauen. Sollte er schnell Zeit verlieren, sucht er sich eine Etappe raus und versucht sie abzuschießen.

Schwäche: Keine besondere.

 

 

Die Herausforderer

Tom Dumoulin – der Allrounder
25 Jahre alt, Team Giant-Alpecin, 2. der Vuelta 2015

Am Limit und darüber hinaus Tom Dumoulin ohne Helfer (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Am Limit und darüber hinaus Tom Dumoulin ohne Helfer (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

 

Berg: 6/10 – Er mag eher die Rollerberge.
Zeitfahren: 10/10 – Der Niederländer ist absolute Weltklasse.
Form: 10/10 – Er will unbedingt in seinem Heimatland ins Rosa Trikot fahren.
Team: 3/10 – Um einen potenziellen Gesamtsieger über drei Wochen zu beschützen reicht die Kletter-Qualität des Teams nicht aus.
Taktisches Vermögen: 8/10 – Bislang hat man keine Fehler von Tom Dumoulin gesehen.

Bonus: Fährt er im Prolog ins Rosa Trikot, hat er keinen Druck mehr und kann befreit alles mitnehmen, was möglich ist.

Schwäche: Wird es richtig steil, ist er einfach zu schwer.

 

Esteban Chaves – Abteilung Attacke
26 Jahre alt, Team Orica-Greenedge, 5. der Vuelta 2015

Esteban Chaves (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Esteban Chaves (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

 

Berg: 9/10 – Mit seinen 55 Kilo ist er wie gemacht für die Berge.
Zeitfahren: 7/10 – Nicht seine Stärke, aber für einen Kletterer sehr ordentlich.
Form: ?/10 – Sein letztes Rennen war die Katalonien-Rundfahrt im März.
Team: 6/10 – Erfahren, aber für die Berge nicht vergleichbar mit Astana oder Sky.
Taktisches Vermögen: 8/10 – Bislang hat man keine Fehler von ihm gesehen.

Bonus: Extrem endschnell und sehr angriffslustig.

Schwäche: Dem Leichtgewicht fehlt manchmal die Tempohärte.

 

 

Domenico Pozzovivo – der italienische Dauerbrenner 
33 Jahre alt, Team AG2R, 5x Top10 beim Giro

Domenico Pozzovivo (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)
Domenico Pozzovivo (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

 

Berg: 9/10 – Wird es richtig steil, ist der kleine Italiener in seinem Element.
Zeitfahren: 5/10 – Das ist seine große Schwäche, er wird viel Zeit verlieren!
Form: 8/10 – Domenico Pozzovivo hat den Giro del Trentino als 7. beendet. Er ist gut in Form.
Team: 6/10 – Die französische Mannschaft verfügt über sehr erfahrene Leute, die Pozzovivo vor allem in der Ebene und bei Wind unterstützen können.
Taktisches Vermögen: 9/10 – Pozzovivo ist kein Mann der lange fackelt. Sieht er eine Chance, greift er an. Jedoch nicht kopflos, sondern mit gutem Instinkt für den richtigen Moment.

Bonus: Domenico Pozzovivo ist kein Unbekannter im Peloton, doch er bekommt sicher mehr Freiheiten als die großen Namen. Ist er einmal entwischt, holt man ihn nur schwer zurück.

Schwäche: Der Kampf gegen die Uhr ist gar nichts für das Leichtgewicht.

 

 

Der Geheimtipp

 

Davide Formolo – der italienische Wunderknabe
23 Jahre alt, Team Cannondale, 2015: Platz 31

Davide Formolo (Foto: Roth&Roth; Roth-Foto.de)
Davide Formolo hat im letzten Jahr eine Etappe beim Giro gewonnen (Foto: Roth&Roth; Roth-Foto.de)

Ja, klar, euch Experten ist der Name längst bekannt. Aber bei diesem Giro könnte er dennoch die große Überraschung werden. Er ist hinter Rigoberto Uran klar die Nr. 2 im Team. Aber er ist der Edelhelfer, der bis zu den ganz schweren Bergetappen ebenfalls geschützt wird. Und wenn er in den Bergen eine Chance bekommt, ist alles möglich. Der Kerl ist 1.81 Meter groß und wiegt kaum mehr als 60 Kilogramm. Auch wenn es bei der Romandie nicht so richtig gut für ihn lief, Formolo ist gut aus dem Winter gekommen. Er wird die erste Woche beim Giro brauchen, um richtig in den Rennrhythmus richtig zu finden. Gelingt ihm das, kann er in den letzten Tagen richtig auftrumpfen. Beim Giro 2004 ist beim Saeco-Team Gilberto Simoni als Kapitän gestartet, am Ende siegte sein 22 Jahre alter Teamkollege Damiano Cunego.