1. Kristoff mit Pflasterstein im Rucksack nach Roubaix
Es hat jeder gesehen, Alexander Kristoff war der stärkste Fahrer im Rennen. Nicht nur John Degenkolb war beeindruckt, wie der Norweger die Verfolger auf Abstand hielt und dann scheinbar locker den Sieg einfuhr. Es ist also kein Wunder, dass Kristoff bei der Pressekonferenz erklärte, dass ihm die Flandernrundfahrt viel mehr liegt als das flache Pflaster bei Paris-Roubaix. Glauben wird ihm das kaum jemand, aber dass er versucht die Favoritenrolle abzugeben ist absolut nachvollziehbar.
Wie schwierig die „Hölle des Nordens“ werden kann, wenn man schon am Start mit dem Pflasterstein im Rücksack losfährt, konnte man in den letzten Jahren gut beobachten. Nicht nur, dass sofort fünf Mann aus dem Sattel gingen, wenn sich Cancellara nur die Hose richten wollte, war eine Gruppe weg, guckten alle den Schweizer an. Helfen will dann keiner, nur mitfahren und am Ende absprinten.
Dass „Spartacus“ trotz Favoritenrolle so oft erfolgreich war, liegt zweifelsohne an seiner Qualität. Er kann eine kleine Gruppe ruhig 30 Sekunden weglassen, und dann auf dem nächsten Pflasterstück mit roher Gewalt die Lücke schließen. Zur Not macht der Schweizer das auch 3-6 Mal. Ist Kristoff ähnlich stark? Warten wir es ab. Die Konkurrenz wird ihm sicher die Gelegenheit geben, zu zeigen, ob er die Lücken zumachen kann und am Ende trotzdem stark genug ist.
2. Angreifen lohnt sich
Nach dem Rennen die perfekte Taktik aufmalen ist keine Kunst, doch die Ronde hat mit Blick auf Paris-Roubaix gezeigt wie es gehen kann. Der Stärkste hat gewonnen, keine Frage, aber musste das so sein? Der entscheidende Moment war die frühe Attacke. Hätten die Verfolger zusammengearbeitet, auch BMC mit den verbliebenen drei Helfern in der Gruppe um van Avermaet konsequent nachgesetzt, sie hätten Terpstra und Kristoff zurückholen können, vielleicht schon vor dem Kwaremont. Hätte, hätte, Fahrradkette ist uns an der Stelle egal, es geht um Roubaix und dort könnte es wieder zu einer ähnlichen Situation kommen. Geht eine Gruppe, beispielsweise am Mons-en-Pévèle (50 km vor dem Ziel), schauen sich die Verfolger vielleicht erneut an und das Spiel „ich fahr nicht für dich – du nicht für mich“ geht wieder los. Keine Mannschaft scheint so stark zu sein, dass sie bis zum Finale alles kontrollieren können, auch Sky nicht. Kein Favorit will den Kontrahenten zum Sieg chauffieren. Es wird eine Reihe von Fahrern geben, die darauf spekulieren, dass sich die Favoriten erneut neutralisieren – das macht es für Kristoff, Thomas und Co. nicht einfacher. Nur wer wagt, kann gewinnen, das gilt besonders bei Paris-Roubaix. Johan Vansummeren hat 2011 eindrücklich gezeigt wie das geht.
3. Degenkolb in Form für Roubaix
John Degenkolb zeigte sich nach der Ronde zufrieden und ist zuversichtlich für Paris-Roubaix. Kein Wunder, der Giant-Alpecin Kapitän ist in Form für „Hölle des Nordens“. Nur auf den letzten Metern des Paterbergs konnte er Van Avermaet und Sagan nicht mehr folgen, sonst war er dort, wo er sein muss. Die Mannschaft scheint zudem stark genug ihn zu unterstützen, im Finale muss er es dann eh alleine richten. Degenkolb liebt das Pflaster, den Mythos, die Klassikeratmosphäre, und das Rennen liegt ihm viel mehr als Ronde. Druck hat der Mailand-Sanremo Sieger nur den, den er sich selbst macht. Eine ideale Ausgangsposition.
4. Sky in der Verantwortung?
Mit Geraint Thomas stellte Sky vor der Ronde den Topfavoriten. Die britische Mannschaft nahm die Rolle an und macht viel Arbeit, von beginn an. Erst war es Christian Knees, der an der Spitze des Feldes den Wind teilte, später lange Bernhard Eisel. Doch in der entscheidenden Situation reichte die Kraft nicht, um Kristoff und Terpstra zurückzuholen. Nur Luke Rowe stand Thomas im Finale zur Seite. Hat das Team seine Kräfte zu früh eingesetzt? Hätte man die Verantwortung mehr auf die anderen Teams schieben können? Vielleicht. Wird Sky am kommenden Sonntag pokern und die anderen Teams arbeiten lassen? Denkbar wäre es. Sky stellte schon häufiger die stärkste Mannschaft bei Roubaix, doch erfolgreich waren sie noch nie. Doch es soll ja der große Auftritt des Sir Bradley Wiggins werden. Die letzte große Heldentat des Toursiegers im Sky-Trikot. Der letzte Mosaikstein für die perfekte Inszenierung. Das macht es für Sky definitiv nicht leichter, die Verantwortung weiterzugeben.
5. Paris-Roubaix 2015, ein offenes Rennen
Über taktische Zwänge und vielversprechende Angriffe haben wir oben schon geschrieben. Die Ronde van Vlaanderen 2015 hat gezeigt, dass für Paris-Roubaix alles offen ist. Kristoff war in Flandern der Stärkste, aber nicht unschlagbar. Sagan, Thomas, Degenkolb, Stybar – die Liste der Favoriten ist lang, die Liste der möglichen Sieger noch viel längen. Es heißt in diesem Jahr nicht Cancellara oder Boonen gegen des Rest – das macht es spannend. Kein absoluter Überflieger, keine alles kontrollierende Mannschaft. Bis Sonntag bleibt genügend Zeit für Taktikpläne und Gedankenspiele. Paris-Roubaix 2015 bleibt ein offenes Rennen. Was kann man sich mehr wünschen, für die „Hölle des Nordens“?