John Degenkolb der nächste Große
Es war ein historischer Sieg, den John Degenkolb am Sonntag bei Paris-Roubaix gefeiert hat. 119 Jahre nach Josef Fischer bei der ersten Ausgabe des Rennens hat wieder ein Deutscher dort gewonnen. Aber mehr noch als in die Vergangenheit, weist Degenkolbs Triumph in die Zukunft. Sein Sieg im Velodrom von Roubaix könnte den Beginn einer neuen Ära markieren.
In den vergangenen Jahren prägten Tom Boonen und Fabian Cancellara das Geschehen auf dem Kopfsteinpflaster. In dieser Zeit hieß der Sieger der Flandernrundfahrt sechs Mal entweder Boonen oder Cancellara, bei Paris-Roubaix gar sieben Mal. Sowohl der Belgier als auch der Schweizer fehlten dieses Mal wegen Sturzverletzungen. Doch die Zeit der beiden geht unabhängig davon unweigerlich zu Ende. Beide sind mittlerweile 34 Jahre alt. Wie die Rennen ohne die Dominanz von Boonen und Cancellara aussehen können, haben wir in den letzten Wochen gesehen. Sie sind offener, unberechenbarer und manchmal auch spannender.
John Degenkolb ist nun einer der ganz Großen, er bestimmt die Rennen mit. Dabei hat „Dege“ erst 26 Jahre auf dem Buckel und dabei bereits eine große taktische Reife erreicht, wie er bei Paris-Roubaix eindrucksvoll bewiesen hat. Bei der Flandernrundfahrt fehlt ihm zur Zeit noch ein Stück, um ganz vorne zu landen. Aber das Rennen mit seinen vielen kurzen, aber steilen Anstiegen ist komplizierter als Roubaix. Auch Cancellara, der 2006 erstmals in der „Hölle des Nordens“ gewann, brauchte danach noch vier Jahre um auch bei der Ronde ganz oben auf dem Podium zu stehen. Cancellara hatte und hat seinen großen Rivalen in Boonen. Wer in den nächsten Jahren einer von Degenkolbs großen Widersachern werden kann, deutete sich in diesem Jahr auch schon an.
Überflieger Alexander Kristoff
Ein zweiter Platz bei Kuurne-Brüssel-Kuurne, drei Etappensiege und Sieger der Gesamtwertung bei Driedagse De Panne-Koksijde, Gewinner der Flandern-Rundfahrt und des Scheldepreises. Dazu Top-Ten-Plätze bei Paris-Roubaix (10.), Gent-Wevelgem (9.) und E3 Harelbeke (4.). Kein Fahrer hat die Kopfsteinklassiker in diesem Jahr so geprägt wie Alexander Kristoff. Der Sieg bei der Ronde van Vlaanderen war eine beeindruckende Demonstration seiner Stärke.
In Roubaix ließ er sich dagegen von Degenkolb überrumpeln, als dieser der Attacke von Greg Van Avermaert und Yves Lampaert konterte. Degenkolb und Kristoff sind ähnliche Fahrertypen. Beide verfügen über gute Sprintqualitäten und den nötigen Druck, um bei den langen Klassikern das Ausscheidungsrennen bis zum Schluss zu überstehen. Ihre Teams verfolgen dabei eine ähnliche Taktik. Sie sind zwar stets präsent und aufmerksam, doch die Kontrolle des Rennens überlassen sie anderen. Lange wird das aber nicht mehr gut gehen, denn Degenkolb und Kristoff werden künftig zu den markierten Fahrern gehören und damit werden ihre Teams mehr Verantwortung übernehmen müssen, die derzeit noch andere inne haben.
Etixx-Quick Step und die Last der Verantwortung
Es war keine gute Frühjahrssaison für den belgischen Rennstall Etixx-Quick Step gemessen an den eigenen Maßstäben. Der ganz große Sieg – und um den geht es für die Equipe immer an erster Stelle – ist ihnen nicht gelungen. Bei der Flandernrundfahrt war Niki Terpstra im Sprint chancenlos gegen Kristoff, bei Paris-Roubaix galt das Gleiche für Zdenek Stybar gegen Degenkolb. So bleibt am Ende der Kopfsteinklassiker „nur“ der Sieg von Mark Cavendish bei Kuurne-Brüssel-Kuurne. Ansonsten gab es jede Menge zweite Plätze, nicht nur in Roubaix und bei der Ronde, sondern auch bei Gent-Wevelgem, E3 Harelbeke und Het Nieuwsblad.
Das Problem der Mannschaft ist, dass alle anderen Teams die Verantwortung für das Rennen gerne bei ihr abladen. In Roubaix war das deutlich zu sehen. Etixx-Quick Step bestimmte das Tempo im Feld, animierte das Rennen und versuchte so, eine Selektion herbeizuführen. Gleiches galt für die Flandernrundfahrt. Am Ende profitierten dann aber beide Male Fahrer einer Equipe, die sich zuvor eher versteckt gehalten hatte. Im Finale von Roubaix war Ethik-Quick Step als einziges Team ebenfalls mit zwei Mann vertreten, doch dort fehlten Stybar und Lampaert dann die Kraft für das Spiel Attacke und Konterattacke. Und selbst als man bei Het Nieuwsblad mit drei Mann in der Spitzengruppe vertreten war, ließ sich das Trio vom Briten Ian Stannard (Sky) übertölpeln.
Sky und der große Wurf
Stannards Erfolg war nicht der einzige für das Team Sky. Auch Geraint Thomas steuerte mit einer glänzenden Attacke bei E3 Harelbeke ein Sieg bei. Doch der ganz große Wurf ist der britischen Mannschaft auch in diesem Jahr nicht gelungen. Weder bei der Flandernrundfahrt noch bei Paris-Roubaix brachte Sky einen Fahrer auf das Podium. Obwohl Thomas in Flandern und Bradley Wiggins in Roubaix als Mitfavoriten an den Start gegangen waren. Zumindest in Flandern investierte Sky eine Menge und unterstützte Etixx-Quick Step zumindest phasenweise bei der Kontrolle des Rennens. Dennoch war am Ende die Luft raus. Thomas landete als bester Sky-Profi auf Rang 14.
Teammanager Dave Brailsford nähert sich dem Radsport mit wissenschaftlicher Akribie. Nichts bleibt dem Zufall überlassen, Leistungsdaten, Trainings- und Ernährungspläne, das alles bildet die Grundlage für die Rennplanung. Gemeinsam mit dem australischen Trainer Tim Kerrison hat Brailsford das Team so zu zwei Toursiegen geführt. Seit 2013 versuchen sie ebenso detailversessen einen großen Klassikersieg zu realisieren. Nur gelingen will das nicht. Vermutlich, weil die Klassiker, bei denen an einem Tag alles stimmen muss, unberechenbarer sind. Thomas etwa hatte in Roubaix schlichtweg Pech, als ihn erst zwei Defekte ausbremsten und ihm schließlich ein Sturz alle Siegchance nahm. Wiggins attackierte zu früh und war am Ende chancenlos.
Sagan wartet weiter
Auch Peter Sagan war in Roubaix nicht gerade vom Glück verfolgt. Ein defekter Schalthebel zerstörte seine Chancen im Finale. Dort, wo er vielleicht die besten Chancen auf einen Podiumsplatz in diesem Jahr gehabt hätte. Seit langem wartet die Radsportwelt auf einen Sieg des Slowaken bei einem der Monumente. Doch auch 2015 wieder vergeblich. Sagans Frühjahr – das erste im Trikot von Tikoff-Saxo – war eher durchwachsen. Beim Sturm umtosten Gent-Wevelgem fuhr er auf einen ordentlichen zehnten Platz. Doch sein Auftritt bei E3 Harelbeke ließ Zweifel an seiner Form aufkommen, als er sich nicht in der vierköpfigen Spitzengruppe halten konnte und mit 1’14 Minuten Rückstand als 30. ins Ziel rollte.
Wenige Tage später bei der Flandernrundfahrt machte er sich am Oude Kwaremont gemeinsam mit Van Avermaert auf die Verfolgung von Terpstra und Kristoff. Im Sprint um Platz drei fehlte ihm dann aber überraschend der Punch. Sagan wird 2016 einen neuen Anlauf starten, auch er ist ja erst 25 Jahre alt, das vergisst man leicht. Vor allem aber dürfte ihn beruhigen, dass sein neuer Chef, der exzentrische Oleg Tinkov noch nicht die Geduld mit ihm verloren hat.
Degenkolb, Kristoff, Sagan, dazu die Phalanx von Etixx-Quick Step und der nächste Anlauf des Teams Sky – wird dürfen uns schon jetzt auf spannende Kopfsteinklassiker 2016 freuen.