Marcel Kittel (Foto: Roth&Roth roth-foto.de)

Marcel Kittel war in den letzten beiden Jahren der beste Sprinter der Welt. Acht Tour-Etappen hat der Thüringer gewonnen, sowohl 2013 als auch 2014 das Gelbe Trikot getragen. In diesem Jahr wird der 27-Jährige nicht bei der Tour starten. Kittel wurde nach gesundheitlichen Schwierigkeiten von seinem Team nicht nominiert. Schade ist es vor allem für Kittel selbst, der bis zuletzt auf einen Start gehofft hatte. Aus sportlicher Sicht kann man die Team-Entscheidung sicher nachvollziehen, hat man John Degenkolb und Warren Barguil starke Fahrer die fit sind und Unterstützung brauchen, doch Kittels Ausfall bringt dennoch einige Probleme mit, nicht nur für Team und Fahrer.

 

Teamtaktik

In den flachen Sprints wird es John Degenkolb gegen Andre Greipel (Lotto-Soudal) und Mark Cavendish (Etixx-QuickStep) sehr schwer haben, doch bei den mittelschweren Etappen kann er mit seinem starken Lead-Out-Team einiges reißen. Auf dem Pflaster ist er das Maß der Dinge und wird mit seiner Mannschaft voll angreifen. Im letzten Jahr war das Team voll auf die Sprints ausgerichtet, nun will man mit Warren Barguil auch in den Bergen Akzente setzten. Für Kittel rutscht mit Simon Geschke ein Allrounder ins Team, der Barguil zusammen mit Georg Preidler in den Bergen unterstützen kann. Dazu kommt, dass Geschke auch den Klassiker-Ankünften vorn landen kann. Im Vergleich zum letzten Jahr hat das Team mehr Flexibilität, aber keinen Top-Mann für die klassischen Sprints.

 

Druck für Degenkolb

Kittels Ausfall rückt John Degenkolb in die Favoritenrolle. Auf dem Pflaster wird vom Roubaix-Sieger sehr viel erwartet und auch bei den Sprints soll „Dege“ möglichst vorn landen. Nach Kittels acht Etappensiegen in den letzten Jahren hängt die Latte hoch, auch wenn niemand vier Etappensiege von Degenkolb werten wird. Wer hätte gedacht, dass der Mailand-SanRemo & Paris-Roubaix Gewinner in dieser Saison noch einmal so etwas wie Druck bekommt?

 

Keine PR ohne den Star?

Es sind nicht nur Kittels Erfolge, die in den letzten Jahren für viel Aufmerksamkeit gesorgt haben. Kittel ist intelligent, eloquent und steht für den neuen, sauberen Radsport. Er geht den unangenehmen Fragen nicht aus dem Weg und zieht so die Radsportfans auf seine Seite. Nun ist er nicht dabei, gibt keine Interviews nach dem Rennen, macht keine Späße in die Kamera. Das hatte man sich beim Sponsor Alpecin sicher anders vorgestellt, vor allem nach den letzten beiden Jahren. Mit Geschke und Degenkolb sind nur zwei Deutsche für das Team mit deutscher Lizenz am Start. Sollte Barguil eine Bergetappe gewinnen, ist das sportlich sicher herausragend, aus PR-Sicht mit einem jubelden Kittel in allen Zeitungen und der Tagesschau nicht zu vergleichen.

 

Geht Dege voll auf Grün? 

Stehen beide am Start, geht keiner auf Grün. So einfach war es bei Degenkolb und Kittel vereinbart. Doch nun fehlt Kittel. Ist der Weg frei für Degenkolbs Kampf um Grün? Die Unterstützung der kompletten Mannschaft hätte der gebürtige Thüringer, doch hat er gegen die Konkurrenz eine Chance? In den flachen Sprints wird es für Degenkolb gegen Cavendish und Greipel schwer, doch er kann auch dort einige Punkte sammeln und den Rückstand in der Punktewertung in Grenzen halten. Zumal sein Hauptgegner vielleicht keiner der Top-Sprinter sein wird, sondern erneut Peter Sagan. Sagan punktet in den letzten Jahren kontinuierlich und sicherte sich jeweils das Grüne. Zuletzt problemlos, auch ohne Etappensieg. Jetzt wurde die Regel geändert, und die flachen Sprints aufgewertet. Doch bei nur 5 flachen Sprints und einigen mittelschweren Etappen dürfte Sagan erneut gute Karten haben. Degenkolb hat ähnliche Qualitäten und ebenso Chancen auf Grün. Für ihn spricht vor allem, dass er auch auf der Pflaster-Etappe ordentlich punkten kann. Was die Konkurrenz betrifft, bleibt abzuwarten, welche Rolle Sagan bei seinem Tinkoff-Saxo-Team spielen wird. Denn die Taktik ist voll auf den Gesamtsieg von Alberto Contador ausgerichtet. Am Ende könnten also tatsächlich die Zwischensprints über das Grüne entscheiden, das hatte man sich bei der ASO ja so gewünscht.

 

Pech für die ARD?

„Dass ich nicht starten darf, finde ich besonders schade, weil in diesem Jahr die ARD wieder von der Tour berichtet“, schreibt Kittel auf seiner Homepage. „Ich habe lange dafür gekämpft, mich dafür eingesetzt, dass die deutschen Kameras wieder auf uns gerichtet sind.“ In der Tat ist es zum Teil auch Kittels Verdienst, dass die ARD wieder live von der Tour berichtet. Einige der Gründe stehen ein paar Zeilen weiter oben. Das er nun nicht dabei ist, ist für ihn sehr schade, vielleicht aber auch für die ARD. Kittel ist Sympathieträger und stellt sich auch unangenehmen Fragen. Er hat sich stark für den Sport eingesetzt und ist sich dabei seiner Rolle immer bewusst. Für Medienmenschen sind Sportler wie Kittel nicht nur wegen ihrer Wortgewandtheit und klaren Position ein Segen, das kann ich aus eigener Erfahrung berichten.