Vor allem nach den beiden vorangegangenen Tagen war klar, dass die 5. Etappe der 102. Tour de France eine äußerst schwierige werden würde. Das Profil machte den Fahrern weniger zu schaffen, vielmehr war es nach dem Sturzfestival am Montag und der Kopfsteinpflaster-Etappe am Dienstag einfach unmöglich sich ausreichend zu regenerieren. Gefühlt die Hälfte des Tour-Feldes war entweder in Stürze verwickelt, oder einfach extrem müde. Hinzu kam, dass starker Wind und Regen die erste richtige Massensprint-Ankunft der diesjährigen Frankreich-Rundfahrt nicht gerade einfacher machten.
Das galt auch für den gebürtigen Rostocker André Greipel. Der 32-Jährige Deutsche wurde zwar als großer Favorit für den erneuten Tagessieg gesehen, doch sein Team Lotto-Soudal konnte aufgrund von mehreren Verletzungen nicht so angreifen, wie es sich der Führende der Punktewertung gewünscht hätte. Am Ende war Greipel auf der Zielgerade in Amiens faktisch auf sich alleine gestellt: Die verletzten Adam Hansen und Greg Henderson, wichtige Teile des Lotto-Zuges, waren nicht in der Lage, Greipel auf den letzten Kilometern zu helfen.
Der Brite Mark Cavendish hatte dagegen eine andere Ausgangslage. Etixx-QuickStep musste zwar ordentlich Kraft investieren, um das Gelbe Trikot von Tony Martin zu verteidigen, doch fünf Kilometern vor dem Ziel war die belgische Mannschaft immer noch mit sieben Mann vorn vertreten. Selbst der Gesamtführende Martin stellte sich in den Dienst von Cavendish. Es konnte tatsächlich damit gerechnet werden, dass Etixx-QuickStep einen richtigen Zug aufbaut und Cavendish eine ideale Position im Finale schenkt. Es kam aber anders.
Wieder war der Australier Mark Renshaw nicht in der Lage, seinen Kapitän bestmöglich platzieren. Renshaw fuhr zwar bis wenige Meter vor dem Ziel vorne im Feld, doch ohne Cavendish an seinem Hinterrad, der selbst seinen Sprint öffnen sollte. Wie übrigens auch der Norweger Alexander Kristoff vom russischen Team Katusha. Der Überflieger des Frühlings war ebenfalls ohne Hilfe seines Teams ganz vorn und eröffnete den Sprint zu früh. Auch Cavendish trat auf der leicht ansteigenden Zielgerade zu früh an, was auch wegen der Windverhältnisse ungünstig war.
Für André Greipel war der Sprint 300 Meter vor dem Ziel gelaufen, dachte er auch selbst. Denn er war nicht nur weit hinten, sondern auch noch eingeklemmt. Das Problem für Greipel lag in der Vorbereitung. Bis 1,5 Kilometer vor dem Ziel brachte Tony Gallopin seinen Kapitän samt Edelhelfer Marcel Sieberg nach vorne. Seiberg versuchte dann den Sprint für seinen Kapitän anzufahren, doch Greipel konnte nicht folgen und fand Siebergs Hinterrad nur kurz. Doch in letzter Sekunde ging für den zweimaligen Deutschen Meister doch noch eine Lücke auf und er zog nach links.
Auch wegen des Seitenwindes war dies eine gute Idee, und so konnte Greipel tatsächlich sowohl Cavendish als auch Kristoff überholen. Der Deutsche ist in den Tour-Sprints im Moment einfach das Maß der Dinge. Es ist zwar immer noch unwahrscheinlich, dass der Lotto-Kapitän auch in Paris das Grüne Trikot trägt, doch mit jedem Etappensieg wird es immer wahrscheinlicher.
Sein größter Konkurrent um Grün ist Peter Sagan (Tinkoff–Saxo). Sein Sprint in Amiens war ebenso beeindruckend. Der Slowake war noch schlechter als Greipel positioniert, konnte aber am Ende sogar fast den Deutschen überholen. Der Eindruck, Sagan sei noch viel schneller als Greipel gewesen, täuscht wohl etwas, denn der richtige Antritt des Slowaken kam erst, als Greipel schon fast alles gegeben hat. Trotzdem zeigte Sagan, dass mit ihm auch im reinen Sprints zu rechnen ist – wobei die Zielgerade in Amiens auch ansteigend war, was dem Slowaken liegt.
Sollte Sagan auch weiterhin so stark im klassischen Sprint sein, wird es für Greipel im Kampf um Grün noch schwieriger. Doch was die Sprints angeht, könnte es die Tour des Deutschen werden, denn er ist im Moment der Schnellste Mann im Peloton.