Mussten Experten vor einigen Jahren anhand von Zeiten an Anstiegen und Steigungsprozenten wilde Schätzungen vornehmen, um die erbrachten Leistungen zu vergleichen, machen heute immer mehr Sportler ihre Daten öffentlich einsehbar. Beim Giro d’Italia 2016 teilten auch Top-Fahrer wie Steven Kruijswijk, Giovanni Visconti oder auch André Greipel ihre Leistungsdaten öffentlich.
Mit Strava & Co. bietet sich heute eine neue Perspektive auf die Rennen und die Fans können ihr eigenes Potenzial mit den besten Ausdauerathleten der Welt vergleichen. Diese Transparenz ist Teil der neuen, hoffentlich sauberen Ära des Radsports.
Wir haben uns die Daten vom Giro angeschaut und analysiert. Ein Glossar mit den Erklärungen findet ihr unten.
Kruijswijk’s Kletterleistungen
Schon auf den ersten Blick fällt auf, dass Steven Kruijswijk vom Prolog bis zur 18. Etappe sehr konstante Leistungen zeigte. Bei der ersten Bergankunft, während der 6. Etappe nach Roccaraso, erbrachte er in der entscheidenden Phase 14 Minuten lang 372W bzw. 5,82W/kg. Eine Leistung, die er zwei Wochen später auf der 18. Etappe am steilen Anstieg zum Pramartino mit 5,80W/kg für 15:49 Minuten immer noch erbringen konnte.
Auf der 19. Etappe über den 2744m hohen Colle dell‘Agnello machte das Astana-Team für Kapitän Vincenzo Nibali das Tempo setzte die Konkurrenz unter Druck. Kruijswijk blieb an Nibalis Seite und musste hier eine Leistung von 292W (4,56W/kg) für 2 Stunden aufbringen. Die größte Belastung erfolgte in den letzten Kilometern des Passes. Kruijswijk musste 35 Minuten lang 340W leisten. Die letzten 12 Minuten bis zum Gipfel dann sogar knapp 370W (5,8W/kg).
In der Abfahrt machte Kruijswijk dann den entscheidenden Fehler, versteuerte sich, fuhr in einen Schneehaufen und überschlug sich. Er verlor den Anschluss und musste bis zum Ziel hinterherfahren. Das kostete Kruijswijk wohl auch den Sieg des Giro d‘Italia.
Welche Rolle die Erschöpfung nach der großen Belastung gespielt hat, kann man nur vermuten. Kruijswijk hatte in den Bergen wenig Team-Unterstützung und musste einige Angriffe abwehren. Bis zur Abfahrt vom Agnello machte Kruijswijk immer einen souveränen Eindruck. Anhand der Strava-Daten kann man erkennen, dass er nach dem Sturz nicht mehr an die bis dahin gezeigten Leistungen heran kam.
Am letzten Anstieg des verhängnisvollen Tages nach Risoul verlor er bereits deutlich Zeit. Auf der 20. Etappe, die ihm letztendlich den Platz auf dem Podium kostete, erbrachte er zwar am Col de Vars direkt nach dem Start noch einmal 345W (5,39W/kg) über 22:32 Minuten, hatte aber danach nichts mehr zuzusetzen. Den 20km langen Col de la Bonette erklomm er mit einer relativen Leistung von 297 Watt und am rennentscheidenden Col de la Lombarde reichten 330 Watt nicht aus, um die Konkurrenz um Valverde, Chaves und Nibali halten zu können.
Hier von einem Einbruch zu sprechen wäre etwas übertrieben. Kruijswijk zeigte nach über 2 Wochen am Limit eine menschliche Reaktion – Erschöpfung. Wie stark ihn die Folgen des Sturzes beeinträchtigt haben, kann man nicht messen. Vielleicht war das Rennen am Ende zwei oder drei Tage zu lang. Ohne den Sturz hätte Steven Kruijswijk vielleicht den ersten niederländischen Grand-Tour-Sieg seit Joop Zoetemelk 1980 eingefahren.
Kruijswijks Leistungen im Vergleich zu Froome und Valverde bei der Tour de France
Wie kann man die Leistung, die dieses Jahr vonnöten war, um beim Giro d‘Italia ganz vorne mitzufahren, im Vergleich zu Leistungen bei der Tour de France einordnen? Einige Rückschlüsse darauf lassen sich aus den Leistungswerten von Alejandro Valverde (3. bei diesem Giro) bei der letzten Bergetappe der Tour de France 2013 ziehen. Auch die veröffentlichten Werte vom Etappensieg von Chris Froome auf der 10. Etappe der Tour de France 2015 bieten Gelegenheit zum Vergleich. Es geht hier natürlich nur um die Leistungsdaten, viele rennspezifische Faktoren (Taktik, Wetter …) werden außer Acht gelassen.
Valverde war bei der Bergankunft nach Annecy-Semnoz, 13km mit über 8% Steigung, immer noch in der Lage 6W/kg zu treten. Eine Leistung die er über 37 Minuten erbrachte und mit dem 4. Etappenrang hinter den Top 3 der Gesamtwertung belohnt wurde. Mit solchen Leistungswerten hätte Steven Kruijswijk das Rosa Trikot mit großer Wahrscheinlichkeit halten, vielleicht sogar seine Führung ausbauen können. Solche Werte zeigte er jedoch nur auf der 15. Etappe, dem Bergzeitfahren an der Alpe di Susi (385W bzw. 6,02W/kg für 28:39 Minuten). Hier hatte er nicht bereits eine ganze Bergetappe in den Beinen und auch einige Renntage weniger absolviert.
Stellt man Kruijswijk‘s Giro-Power den vom Team Sky veröffentlichten Daten der 10. Etappe der Tour der France 2015 nach La Pierre-Saint-Martin gegenüber, zeigt sich, dass für eine Top 5 Performance bei der Tour de France wahrscheinlich noch ein kleiner Sprung fehlt. Chris Froome fuhr hier mit 414W (~6,13W/kg) für über 41 Minuten zum Etappensieg und in das Gelbe Trikot. Diese Werte wurden im Nachhinein aufgrund des Einsatzes asymmetrischer Kettenblätter um 6% auf 378W reduziert. Ob diese Wirkung wirklich realistisch ist, lässt sich nicht belegen. Die Daten deuten daraufhin, dass die Besten bei der Tour de France immer noch rund 2–3% über den Leistungen der Giro-Stars liegen. Interessant ist dabei auch, dass der Viertplatzierte der betrachteten Tour-Etappe, Kruijswijk‘s Teamkollege Robert Gesink, den Anstieg noch mit 409W und damit rund 5,7W/kg für 43 Minuten hinauffuhr!
Nicht zu vernachlässigen ist auch der relativ „entspannte“ Start des 2016er Giro in den Niederlanden, wo Steven Kruijswijk auf den ersten Etappen (nur) 175W und 149W im Schnitt aufbringen musste, um im Peloton mitzufahren. Im Kontrast dazu ist die erste Woche der Tour de France berüchtigt für harte, intensiv ausgefochtene Etappen, die bereits stark an den Kraftreserven zehren können. Das war auch 2015 der Fall.
Flachetappe im Peloton vs. Ausreißer auf einer Bergetappe
Matej Mohorič (Lampre–Merida), der U23-Weltmeister von 2014, konnte sich auf der dritten Etappe von Nijmegen nach Arnheim über weite Strecken im Peloton verstecken, bevor er im schnellen Finale auf Rang 10 sprintete. Die relativ moderate Leistung von 184 Watt deutet auf einen weniger intensiven Tag auf dem Rad hin, welcher es dem Slowenen erlaubte, nach fast viereinhalb Stunden einen starken Sprint hinzulegen – 412Watt auf den letzten Kilometern und dann über 600W auf der Zielgeraden.
Giulio Ciccone (Bardiani–CSF) fuhr auf der 10. Etappe das Rennen seiner Karriere. Er gewann die schwere Bergetappe nach Sestola mit einer beeindruckenden Solofahrt über die letzten Anstiege und verbrachte insgesamt fast 6 Stunden im Sattel. Er überwand insgesamt ca. 4130 Höhenmeter und erbrachte die unglaubliche normalisierte Leistung von 288W, was fast 5W/kg ergibt. Den letzten Anstieg zur Bergankunft in Sestola fuhr er sogar noch mit über 6W/kg.
In den Daten lässt sich die große Diskrepanz zwischen solch unterschiedlichen Etappen gut erkennen. Natürlich müssen die Fahrer auch auf flacheren Etappen starke Leistungen zeigen, auf den letzten Kilometern bis zum Zielsprint, oder wenn der Faktor Wind ins Spiel kommt. Aber die Leistung in den Bergen beeindruckt Fans und Amateurfahrer am meisten. An den Steigungen werden wohl deshalb die großen Helden geboren.
Sprintanalyse
Sprints um die prestigeträchtigen Etappensiege bei den großen Rundfahrten sind meist hart umkämpft. Im Kampf um das beste Hinterrad und die ideale Ausgangsposition erreichen die Fahrer auf den letzten Kilometern Geschwindigkeiten von bis zu 60km/h im Hauptfeld und das auf flacher Strecke. Den rasantesten Sprint der diesjährigen Italienrundfahrt gab es auf der 21. Etappe in Turin. Die beiden deutschen Supersprinter, Marcel Kittel und André Greipel, waren bereits abgereist und damit die effektivsten Sprintzüge aufgelöst. Das Resultat war ein chaotisches Finale, in dem unter anderem Giacomo Nizzolo (Trek-Segafredo), der als erstes die Ziellinie überquert hatte, disqualifiziert wurde. Nikias Arndt vom Team Giant-Alpecin bekam daraufhin nachträglich seinen ersten Grand Tour Etappensieg zugesprochen.
Anhand der Daten des Fünftplatzierten Sean de Bie vom Team Lotto–Soudal zeigt sich die gesamte Hektik des Sprints. Die letzte Runde (7,1km) auf dem Parcours in Turin absolvierte er mit 51.4km/h bei einer Leistung von 378 Watt. Die eigentliche Sprintphase begann schon gut 1,4km vor dem Ziel. Von diesem Moment an betrug die Durchschnittsgeschwindigkeit 59.1km/h und auf den kritischen letzten 200 Metern leistete De Bie gar 758W für 15 Sekunden und fuhr dabei über 67km/h. Diese Leistungswerte sind bereits ohne Kontext als stark zu bewerten, bedenkt man zusätzlich, dass sie nach einer Drei-Wochen-Rundfahrt auf Weltklasse-Niveau erbracht wurden, sind sie besonders eindrücklich.
GLOSSAR
Durchschnittsleistung (W): Die durchschnittlich erbrachte Leistung des Fahrers (in Watt) über ein gesamtes Rennen, eine Trainingseinheit oder einen spezifische Belastung.
Normalisierte Leistung (W): Im Unterschied zur reinen Durchschnittsleistung bezieht die normalisierte Leistung (NP) die Variabilität einer Fahrt mit ein, also die „harten“ Belastungen und die Erholungsphasen. Daraus ergibt sich eine Maßzahl für die wirkliche Intensität, die eine Vorstellung bietet, wie die Einheit als stetiger „Effort“ ausgesehen hätte.
Relative (gewichtete) Leistung (W/kg): Die relative Leistung (engl.: Power-to-weight ratio) gibt an, welche Leistung der Fahrer pro Kilogramm seines Körpergewichts erbringt. Daraus lässt sich ablesen, wie viel die absolute Leistung Wert ist, da vor allem am Berg das Gewicht großen Einfluss davon hat, in welcher Geschwindigkeit sich der Kraftaufwand äußert.
VAM (Vm/h): VAM (ital.: Velocita Ascensionale Media) ist eine Maßzahl für die durchschnittlich überwundenen Höhenmeter pro Stunde. Dadurch werden Kletterleistungen an verschiedenen Bergen bzw. in verschiedenen Wettkämpfen vergleichbar. Es zieht seine Popularität aus der simplen Berechnung, für welche lediglich die gefahrenen Höhenmeter und die Zeit benötigt werden.