Die Entscheidung über den Gesamtsieg wird an den Alpen-Anstiegen in der letzten Tour-Woche fallen. Die Spannung ist dann am größten, die Aufmerksamkeit riesengroß und die Veranstalter wollen das erhoffte Spektakel liefern. Die letzten beiden Etappen sind keine 150 Kilometer lang und das hat einen Grund: In der Kürze liegt die Würze.

Die Schlussetappe der Tour de Suisse im Juni musste wegen Schneefalls verkürzt werden. Das Ergebnis war ein offensives, brutales Rennen ohne Pause – für die Zuschauer ein Leckerbissen. Klar, die verkürzte Etappe war extrem kurz, aber sie zeigte überzeichnet, warum die Kürze Spannung bringen kann: Die Fahrer halten sich nicht zurück.

 

Vollgas ab Kilometer Null

Auf den ersten Blick scheinen kürzere Etappen  (100–140 km) weniger herausfordernd zu sein. Doch die kurzen Rennen führen meist zu einer deutlich offensiveren Fahrweise. Es wird nicht nur von hoffnungsvollen Baroudeuren attackiert, während die Besten erstmal sitzen bleiben und das Rennen kontrollieren, sondern es greifen gleich die Favoriten an.

So war es auch beim Critérium du Dauphine. Mit drei aufeinander folgenden Bergankünften zum Abschluss des Vorbereitungsrennens für die Tour de France hätte man erwarten können, dass sich die Favoriten erst einmal zurückhalten würden, um sich womöglich sogar bis zur letzten Etappe zu schonen. Stattdessen gab es drei spannende, sehr schnelle Etappen.  Marcus Burghardt sprach auf Strava von den „kurzen und intensiven“ Etappen, während Etixx-Talent Laurens de Plus die 5. Etappe sogar als „das härteste Rennen, das er je gefahren ist“, bezeichnete.

Der moderne Prototyp für den großen „Unterhaltungwert“ kurzer Etappen ist wohl die 19. Etappe der Tour de France 2011, die mit der klassischen Kombination aus Col du Télegraphe und Col du Galibier mit der legendären Bergankunft in Alpe d’Huez nach nur 110 Kilometern endete. Die Favoriten um Alberto Contador und Andy Schleck fuhren die ersten Attacken fast 100km vor dem Ziel und zwangen den überraschenden Träger des Gelben Trikots, Thomas Voeckler, sich bereits am ersten Pass des Tages völlig zu verausgaben, um dann auf der mythischen Galibier-Passstraße spektakulär einzubrechen. Diese gerade einmal 3 Stunden 13 Minuten lange Etappe wird wohl für lange Zeit im Gedächtnis der Radsportfans bleiben.

Das Gegenteil davon sind Rennen wie die 19. Etappe des letztjährigen Giros über 236 km mit einer harten Bergankunft, oder die Etappe der Tour de Suisse auf den 2500m hohen Rettenbachferner. Eine Anfahrt ohne nennenswerte Ereignisse und größtenteils müde Fahrer die 11% steilen Rampen nach Sölden hochschleichen, geraten schnell in Vergessenheit.

 

Macht nur lang auch richtig hart? 

Aus Sicht der Leistungspuristen zeigt sich, dass kürzere Teilstücke generell zu deutlich intensiveren physiologischen Belastungen für die Athleten führen. Ein kleiner Vergleich zwischen der 5. Etappe des Dauphiné (137 km) und der 7. Etappe der Tour de Suisse (225 km) der mit Leistungsmessern aufgezeichneten Wattzahlen von Spitzenfahrern illustriert diese Diskrepanz eindeutig.

Wie in der unten stehenden Grafik zu sehen, erbrachten bei der französischen Rundfahrt der deutsche Meister Emanuel Buchmann (Bora–Argon18) als 17. und der Neuseeländer George Bennett (Team LottoNL–Jumbo) normalisierte Leistungen von 299W bzw. 296W über knapp 3:30 Stunden. Das entspricht Leistungen relativ zum Gewicht von starken 4,82W/kg bei Buchmann und gar 5,1W/kg für den Kiwi-Kletterer in holländischen Diensten. Im Gegensatz dazu die Leistungswerte der Tour de Suisse, wo der Schweizer Lokalmatador Marcel Wyss (IAM) den ca. 215 km langen Weg zum „großen Finale“ am Rettenbachferner mit durchschnittlich weniger als 200 Watt und normalisiert ca. 235W (3,73W/kg) zurücklegte. Um dann am Endanstieg einen 29. Rang einzufahren, reichte eine Leistung von 4,98W/kg auf den 11,7 steilen Kilometern., während Bennett bei der kurzen Dauphine-Etappe hinauf nach Vaujany noch beeindruckende 6,07W/kg erbrachte.  

 

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Der Vergleich der kurzen Dauphine Etappe mit dem langen Tour de Suisse Abschnitt

 

Die Limits menschlicher Leistung werden eher auf den kurzen Etappen ausgereizt und damit auch das Spektakel produziert, das die Fans am Straßenrand und vor den Bildschirmen sehen wollen. Natürlich sind auch die Ausdauerleistungen auf extremen Distanzen aus sportwissenschaftlicher Sicht sehr beeindruckend und für den Breitensportler illusorisch, aber in Sachen Entertainment kein Vergleich.

 

Vorbild Giro d’Italia 2016: kurz & hart = spannend

Wie sehr sich Distanzen auf den Rennverlauf auswirken, zeigte sich zuletzt beim Giro d’Italia, der in den Medien fast einstimmig als eine der spannendsten großen Rundfahrten der letzten Jahre gepriesen wurde. Insgesamt fanden sich unter den 21 Etappen zwar zehn mit einer Länge von mindestens 190 km, von den sieben als reine Bergetappen ausgezeichneten Teilstücken waren in dieser Gruppe aber nur zwei zu finden (10. Etappe: 219KM;  14. Etappe: 210KM). Etappe 10 war kaum entscheidend im Kampf um das Rosa Trikot, da sich die Favoriten nur belauerten. Lediglich die 14. Etappe bot große Unterhaltung.

Auch für die Tour de France in diesem Jahr können sich Radsportenthusiasten Hoffnungen auf eine unterhaltsame Ausgabe machen. Die beiden schwersten Teilstücke in den Pyrenäen sind zwar relativ lang (je 184 km), doch die entscheidenden Alpenetappen an den letzten beiden Tagen fallen in die Rubrik „kurz & hart“. Sie bieten das ideale Terrain für ein großes Spektakel, das den Mythos Tour de France nährt – ganz nach dem Wunsch des Veranstalters.