Die komplette Radsportwelt beneidet Deutschland um die beiden Top-Sprinter André Greipel und Marcel Kittel – nur zur WM 2016 nicht. Die Chancen auf das begehrte Regenbogentrikot sind auf dem Sprinterkurs in Katar so groß wie lange nicht mehr, doch nur einer kann es tragen, und will man im deutschen Team überhaupt eine Chance auf den Titel haben, muss man sich vor der WM auf einen Kapitän festlegen. Das liegt vor allem auch daran, dass nur sechs Fahrer starten können. André Greipel drängt zurecht auf eine Entscheidung des BDR, doch das ist wahrlich keine leichte Aufgabe. Vielleicht hoffte man beim BDR bislang, das Thema würde sich von selbst erledigen, doch nun muss man eine Entscheidung fällen. Was spricht für Kittel, was für Greipel?

 

Das Team

Da das deutsche Team nur sechs Starter hat, kann man sich keine Doppelspitze erlauben. Egal ob Greipel oder Kittel am Start stehen, beide wären Top-Favoriten auf den WM-Titel. Während Kittels Sprinterzug bei Etixx-Quickstep keine deutschen Fahrer hat, steht Greipel mit Marcel Sieberg die komplette Saison ein Vertrauter an seiner Seite, der auch bei der WM helfen könnte. Das dynamische Duo Sieberg-Greipel funktioniert gut zusammen, ist eingespielt und auf Sieberg ist als Helfer und Anfahrer stets Verlass.

Doch bei der WM wird die deutsche Mannschaft schon vor den letzten 1000 Metern stark gefordert sein, denn die Konkurrenz will sicher nicht gegen den ausgeruhten deutschen Sprintzug antreten. Bei nur sechs Fahrern stellt sich die Frage, ob im Finale überhaupt noch ein Fahrer an der Seite des deutschen Kapitäns sein kann, um den Sprint anzuziehen. Sollte das so sein, würde dies eher für Marcel Kittel sprechen, der auch ohne Anfahrer zurechtkommt, sich im Positionskampf extrem gut behaupten kann und sehr viel Gespür für das richtige Hinterrad hat.

 

Der Druck

Egal wer als Kapitän für den BDR startet, auf ihm lastet ein riesiger Druck. Sowohl Kittel als auch Greipel sind als Sprinter Druck gewohnt. Kommt es drauf an, sind sie zur Stelle, meist bleiben nicht viele Chancen. Während André Greipel vor allem dank seiner Erfahrung und seiner vielen Erfolge ruhig bleibt, scheint bei Marcel Kittel der Druck mit dem Anpinnen der Startnummer zu verschwinden. Schon in den Nachwuchsklassen lieferte Kittel, wenn es gefordert war. Und auch bei den Profis holte er sich das Gelbe Trikot der Tour mit Ansage. Greipel hat schon einige WM-Rennen bestritten und weiß um die Besonderheiten. Diese WM ist eine einmalige Chance und etwas besonderes, dass wissen beide Athleten. Für Greipel ist es wohl definitiv die letzte.

 

Die (vorerst) letzte Chance

Ohne Frage, beide hätten das WM-Trikot verdient. Für André Greipel wäre es das i-Tüpfelchen auf einer langen und herausragenden Karriere, für Kittel der verdiente Lohn für den wohl besten Sprinter der letzten Jahre. Für André Greipel ist es zudem wohl die letzte Chance auf einen WM-Sieg. So ist man geneigt ihm die Kapitänsrolle zu übertragen, auch um seine Verdienste der letzten Jahre zu würdigen. Doch Greipel war schon mehrfach Kapitän, hatte mehrere Chancen auf ganz große Erfolge im Nationaltrikot. Beim WM-Rennen 2011 auf dem flachen Sprinterkurs in Dänemark stellte sich das ganze BDR-Team in Greipels Dienst. Er war der Kapitän und hatte seine Chance. Am Ende jubelte Mark Cavendish. Auch beim Olympia-Rennen 2012 in London fuhr das Team komplett für André Greipel. Selbst John Degenkolb musste seine guten Medaillen-Chancen für Greipel opfern.

Für Marcel Kittel wäre es die allererste Chance zu zeigen, was er im Nationaldress leisten kann. Blickt man voraus, so wird es auch für Kittel die vorerst letzte Chance sein, denn 2017 findet die WM in Norwegen statt, wo es laut aktuellem Plan kaum Chancen für Sprinter gibt. Im Jahr 2018 sind dann in Innsbruck die Kletterer dran.

 

Ein langes hartes Rennen 

Das WM-Rennen ist lang und sehr hart. Ein Klassiker eben. Das spricht für André Greipel, der auch schon bei den Frühjahrsklassikern sehr gute Leistungen gezeigt hat. Doch blickt man auf die Ergebnisse bei der Tour de France, hat Greipel auf der kürzesten Etappe seinen Etappensieg eingefahren, während Marcel Kittel die längste Etappe der Tour mit der schwersten Sprintankunft für sich entschieden hat. Beide können auch bei langen Rennen bestehen und es entscheidet die Form.

 

Super Saison und gute Form

Sowohl Kittel als auch Greipel haben eine extrem erfolgreiche Saison hingelegt. Beim Giro und der Tour fuhren beide Siege ein. Bei der Deutschen Meisterschaft setzte sich Greipel durch, bei der inoffiziellen Sprinter-WM, dem Scheldeprijs, triumphierte Kittel. In den direkten Duellen hatte meist Kittel die Nase vorn, doch die letzten echten Duelle liegen schon einige Tage zurück. Bei den Cyclassics hatte Kittel-Defektpech, doch Greipel konnte seine Chance nicht nutzen. So wird man beim BDR vielleicht bei der aktuell laufenden Eneco-Tour genau hinschauen um eine Entscheidung zu fällen.

 

Die Zeit drängt

Egal wie die Entscheidung des BDR ausfällt, wenn am Ende in Katar kein Deutscher das Regebogentrikot überreicht bekommt, hat man es „falsch“ gemacht und es wird Stimmen geben, die dann „hätte“ sagen. Doch es ist wahrlich keine leichte Entscheidung und es gäbe für beide Fahrer Argumente. Es ist nur zu wünschen, dass sich der BDR bald und vor allem klar äußert und seine Entscheidung schlüssig begründet. Denn so können auch die fünf Indianer früh planen und sich auf die Mission „Regenbogen-Häuptling“ gezielt vorbereiten. Es ist sehr toll zu beobachten, dass sich die beiden Sprinter kein Verbal-Duell liefern. Beide sind echte Champions und respektieren sich gegenseitig, da gibt es sicher einige Nationalverbände, die den BDR auch darum beneiden.

Mit nur sechs Startern ist die Ausgangslage ohnehin nicht ideal, will man um den Titel mitfahren, muss einfach alles perfekt funktionieren – und das fängt mit der Nominierung an.