Tom Boonen (Foto: Roth&Roth)

Franco Ballerini – Paris-Roubaix 2001

Bild 1 von 22

Abschiedparty

Es ist sein letztes Rennen. Paris-Roubaix. Natürlich. Dieses Rennen passt perfekt zum großen Abschied. Tom Boonen hat es über Jahre geprägt. Sein Stern ging auf dem Pflaster der „Hölle des Nordens“ 2002 auf, und er wird genau dort, als einer der größten Klassikerfahrer aller Zeiten 15 Jahre später abtreten. Doch Boonen wird nicht leise gehen, er will das Pavé beben lassen, zum letzten Mal. 

Das Internet ist voll mit Texten über Boonen und seine außergewöhnliche Karriere. Sein WM-Titel, das Grüne Trikot, 3x Flandern, 4x Roubaix, 113 Siege als Profi – beeindruckend, ohne Frage. Aber mit Tom Boonen verlässt auch ein echter Champion und fairer Sportsmann das Peloton. Man muss die wilde Zeit des „Tommeke“ nicht ignorieren um in ihm einen großartigen Sportler und Idol zu sehen. Kokain-Affäre, junge Frauen, schnelle Autos – auch das gehört zu seiner Biografie. Versetzt man sich in die Lage eines jungen Ausnahmeathleten, der mit Anfang 20 zum Nationalhelden wird, kann man verstehen, dass die Welt leicht aus den Fugen gerät. Kritisieren kann man es trotzdem. Tom Boonen ist gereift, er ist erwachsen geworden, Vater. Die Leidenschaft für den Sport hat er wie vor 15 Jahren, sagen Kollegen. Sie beschrieben ihn als fairen Sportsmann, Mann mit Bodenhaftung, unkompliziert. 

 

Immer im Fokus

Will man sich als Journalist ein Bild machen, tritt man zuweilen in den Hintergrund, beobachtet, statt Fragen zu stellen. Aus den Eindrücken formt sich ein Bild und meist bleiben ein paar Begegnungen und Situationen im Gedächtnis, die für diese Person stehen.

Bei Tom Boonen beeindruckt schnell seine Geduld, mit der den Fans Autogramme gibt, oder Selfies macht. Wie er auch nach enttäuschenden Rennen nicht den Frust an Zuschauern rauslässt, wie man es selbst bei Jens Voigt beobachten konnte. Vielleicht war ich nur immer zufällig nicht dabei, aber ich habe Boonen nie unberechtigt Fans anpflaumen sehen. 

Für mich gibt es drei Momente mit Tom Boonen, die mir in Erinnerung geblieben sind. Im Jahr 2006 musste Boonen bei Paris-Roubaix eine herbe Schlappe einstecken. Gegen Fabian Cancellara war kein Kraut gewachsen. Boonen war selbst enttäuscht, die Erwartungen waren enorm, mit Kritik wurde nicht gespart. Im Nebenraum der historischen Duschen war damals noch die Pressekonferenz. Im völlig überfüllten Raum beantwortete Cancellara bereits die Fragen der Journalisten, als Boonen den Raum betrat. Er ging leise an den Tisch von Cancellara, machte eine entschuldigende Geste für die Störung und gratulierte fair. Eine ehrliche Geste, ohne Schnörkel oder Theatralik.

Im gleichen Jahr litt Boonen während der dritten Woche der Tour. Ein Etappensieg war ihm nicht geglückt und er hatte gesundheitliche Probleme. Auf der schweren Etappe nach Alpe d’Huez musste er auf halbem Weg zum Col du Lautaret widerwillig die Segel streichen. Boonen stoppte, klickte aus, wendete sich ab. Wir stiegen aus dem Besenwagen und der Kommissär nahm ihm die Rückennummer ab. Es war ihm anzumerken, dass er einfach nur weg wollte. Die Fotofragen machten pausenlos Bilder, die TV-Kameras hielten drauf. Bevor Boonen ins Auto stieg und endlich seine Ruhe hatte, bedankte er sich noch bei seinem Teamkollegen Steven de Jongh, der bei ihm geblieben war. 

Beeindruckt hat mich auch die Pressekonferenz von Paris-Roubaix 2016. Vielleicht seine größte Niederlage. Er hatte den fünften Triumph vor Augen und machte einen bitteren Fehler, als er sich im Sprint einbauen ließ. Alle Journalisten stellten die Fragen nach seinem Fehler, nach der vertanen Chance. Fragten, ob er das denn auch selbst als unfassbar bitter empfände. Boonen saß da, sprach leise, aber bestimmt und antwortete auf die Fragen. Keine Ausreden, keine Geschwafel, keine Parolen. Er saß da, gratulierte dem Sieger und sagte seine Meinung. Er dankte seinen Teamkollegen und den Fans, aber nicht aus Pflichtbewusstsein, sondern von Herzen.

Es war eine dieser Pressekonferenzen, in die man mit Mitgefühl, an der Grenze zum Mitleid geht. Aber es war ein Moment der Fairness. Mir persönlich ist eigentlich egal, wer gewinnt, wenn es ein tolles Rennen ist und alles fair abläuft. Aber nach dieser Pressekonferenz 2016 habe ich gedacht, ich würde es ihm gönnen, mit einem Sieg abzutreten.

 

Boonen geht in Rente, Paris-Roubaix wird bleiben

Für jeden Radsportfan kommt die Zeit, in der Idole abtreten. Es fühlt sich an, als könnten die Rennen nie wieder so sein wie zuvor. Das macht eben Idole aus. Stars gibt es viele, und alle wollen heute „Marken“ sein. Früher hieß es nicht so, aber es war das gleiche gemeint. 

Doch Idole waren nur ganz wenige Fahrer. Nur sie erreichten diesen Status des „Unwegdenkbaren“. Merckx, ganz sicher. Wohl auch Coppi und Co., vor meiner Zeit. In den vergangenen Jahren nur Indurain, vielleicht Bettini. Aber Tom Boonen gehört in diese Kategorie. Die Klassiker ohne Boonen, das fühlt sich doch komisch an. Noch. Boonen macht wieder einmal alles richtig, dass er aufhört, während er zu den Besten gehört. Kein letztes Jahr, bei einem Scheich-Team, für noch mehr Ferraris. Sondern Vollgas, bis ins Velodrome. Dann ist Schluss.

Wer die Verabschiedung bei der Ronde van Vlaanderen in Antwerpen miterlebt hat, kann sich vorstellen, was in Roubaix los sein wird. Tom Boonen wird das bis zur letzten Zieldurchfahrt nicht so sehr berühren, wie seine Fans. Er ist Sportler, will den Sieg, bis zum letzten Rennen. Er macht keine Abschiedstour, sondern Vorbereitung auf Paris-Roubaix. Vielleicht hätte man ihm ein anderes Rennen zum Abschied geraten, denn Paris-Roubaix ist unberechenbar. Du musst bärenstark sein um eine Chance zu haben, bist aber abhängig vom Glück. Es wäre es fast zu kitschig, würde Boonen beim letzten Rennen aufs Podest klettern. Das wäre Hollywood und das braucht es eigentlich nicht.

Egal mit welcher Platzierung, ich wünsche ihm, dass er die letzte Runde im Velodrome drehen kann.
Die Fans werden ihn so oder so feiern und er sie auch. Was das alles bedeutet hat, wird ihm ohnehin erst in einiger Zeit klar.