Nairo Quintana (Foto: Roth&Roth)

Bergankünfte und schnelle Etappen gab es bereits – richtig schwer wird es aber erst jetzt

Etna, Blockhaus und Oropa – drei Bergankünfte gab es bei diesem Giro bereits. Die schwerste Ankunft war sicher der steile Anstieg zum Blockhaus. Doch blickt man auf die letzte Woche, wird schnell klar: Richtig los, geht es erst jetzt. Die bisherigen Etappen können da kein Gradmesser sein.

Es gibt mehrere Faktoren die eine Etappe schwer machen. Wetter, Tempo, Anstiege, … und ganz gewiss auch die Frische. Während bei den ersten Bergankünften nicht nur die Anfahrt zum Finale flach war, gab es vorher meist Flachetappen. Das ändert sich ab jetzt. Allein die Etappe am Dienstag, über den höchsten Punkt des 100. Giro am Stelvio, wird Spuren hinterlassen. Wenn alle die Müdigkeit spüren, werden die Rennen anders laufen. Die Rolle der Helfer wird wichtiger und auch taktisches Geschick rückt mehr in den Vordergrund. Ab jetzt kann man an jedem Tag den Giro verlieren. Aber gewinnen kann man ihn nur, wenn man jeden Tag zu den Besten zählt.

 

Nairo Quintana – großer Rückstand, aber längst nicht geschlagen

Ja, das kolumbianische Leichtgewicht hat sich die ersten zwei Wochen des Giro sicher anders vorgestellt. Zwar hat er am Blockhaus Rosa erobert, doch die Abstände zur Konkurrenz waren klein. So musste er das Trikot wieder abgeben und in Oropa sogar eine herbe Niederlage einstecken, als ihn Tom Dumoulin abhängte. Nun liegt Quintana 2:41 min zurück, sicher zu viel für seinen Geschmack, auch wenn die Bonussekunden, die er sich am Sonntag geholt hat, Moral geben. Dennoch darf man den Vuelta-Sieger nicht zu früh abschreiben, denn jetzt beginnt sein Giro.

Wie oben beschrieben, gab es bislang fast nur einen schweren Berg je Etappe. Das ändert sich nun drastisch. Quintanas Gewichtsvorteil kommt dann umso stärker zum Tragen. Zudem hat er starke Berghelfer, die ein Peloton schon am ersten Anstieg sprengen können. Außerdem werden die Anstiege in den Alpen länger und es geht höher hinaus. Der Gipfel des Stelvio liegt bei 2758 Meter üNN und ist er bezwungen, geht es noch einmal bis auf knapp 2500 Meter hinauf. Die Körper der Fahrer reagieren unterschiedlich in der Höhe. Alejandro Valverde beispielsweise bekommt Probleme, wenn es über 2000 Meter geht. Für einen Kolumbianer ist das weniger ein Problem, er ist es schlicht gewohnt. 

Auch wenn Quintana im Abschlusszeitfahren noch einmal ~ 1:30 min verlieren sollte, müsste er nur rund viereinhalb Minuten auf Dumoulin herausfahren. Klingt viel, ist es auch. Aber auf diesen schweren Etappen kann man schnell mehr als zweieinhalb Minuten einbüßen, auch ohne ganz schlechten Tag. 

 

Tom Dumoulin – souverän, bis jetzt

Es war bislang eine sehr beeindruckende Leistung des Niederländers. Brutal stark am Blockhaus, souverän im Zeitfahren und überraschend dominant in Oropa. Aber jetzt kommen die Tage der Wahrheit. Es kommen lange, sehr lange Anstiege und es geht sehr hoch hinaus. Tage zum Erholen gibts dagegen keine mehr. Tom Dumoulin hat sich nicht nur ins Rosa Trikot gefahren, sondern auch in die Rolle des Top-Favoriten. Hätte er in Oropa 30 Sekunden auf Quintana verloren, hätte er den Druck vielleicht von sich gelenkt und in den nächsten Tagen taktisch agieren können. Vielleicht hätten Nibali, Pinot und Quintana mehr auf sich geschaut und wären sich gegenseitig hintergefahren, wäre Dumoulins Vorsprung kleiner. So könnten sich die Konkurrenten gegen ihn verbünden, denn er ist jetzt der absolute Top-Favorit. Doch er hat dort Vorsprung herausgefahren, wo er es konnte, vielleicht sind das am Ende die entscheidenden Sekunden.

Ohne Frage wird auch sein Team eine große Rolle spielen. Simon Geschke war zu Beginn der Rundfahrt erkältet, ist jetzt aber rechtzeitig fit. Laurens ten Dam muss nun ebenfalls zeigen, dass er zurecht die Rolle des Berghelfers im Team hat. Ganz bitter ist das Aus von Wilco Kelderman. Er war in super Verfassung und hätte Dumoulin in den schweren Anstieg enorm helfen können. Dieser Ausfall scheint nicht kompensierbar. 

Auch wenn sich sein Team für ihn zerreißen wird, Dumoulin muss taktisch klug agieren. Er muss den richtigen Attacken folgen, auch mal den Toten Mann spielen und jede Gelegenheit nutzen die Konkurrenz gegeneinander auszuspielen. Denn mit seiner beeindruckenden Watt-Power allein kann er diesen Giro nicht gewinnen. Ein kleiner Vorteil ist sicher, dass nahezu alle Kontrahenten lieber ihn am Ende in Rosa sehen, als einen aus dem Rest der Konkurrenz.

 

Vincenzo Nibali – Girosieg abgehakt, aber der Hai hat noch Hunger

Für Vincenzo Nibali lief es bei diesem Giro nicht wie gewünscht. Er hat am Blockhaus versucht, bei Quintana zu bleiben, hat überzogen und den Preis dafür bezahlt. Auf dem Weg nach Oropa ist er von Dumoulins Hinterrad „fliegen gegangen“, wie es so schon auf Radsportdeutsch heißt. „Ich kann mich nicht über meine Form beklagen, die Zahlen sind gut“, sagte Nibali und fügt an: „Das Niveau bei diesem Giro ist wirklich hoch. Hier sind einige Fahrer einfach stärker als ich.“ Es ehrt ihn, dass so auszudrücken und nicht mit irgendwelchen Angriffsparolen um sich zu werfen. Nibali sagt, er kann nur sein Bestes geben und das wolle er auch tun. „Der Giro ist noch nicht vorbei, aber ich bin sehr weit hinter Dumoulin zurück. Wenn Tom diesen Giro gewinnt, kann ich nur zu ihm hochgehen, die Hand schütteln und ihm gratulieren“, sagt Nibali.

Doch wer Nibali kennt, der weiß, er wird den 100. Giro nicht ohne großen Auftritt beenden. Nibali hat alles gewonnen und nichts zu verlieren. Er brennt darauf, anzugreifen und will sicher gern in Mailand auf dem Podium stehen. Nibali wird angreifen und könnte so das Rennen entscheidend beeinflussen. Vielleicht entsteht mal eine Gruppe und er macht mit Zakarin und Yates gemeinsame Sache, während Dumoulin in die Defensive gerät. Oder aber, Nibali schließt eine Kooperation mit Dumoulin, um Quintana und Pinot abzuhängen. In dieser letzten Woche ist viel möglich und fast alles ungewiss. Dass der Hai von Messina bis Mailand nicht nur mitrollt, steht dagegen fest.

 

Ein schöner Giro, mit zu langen Etappen

Der Auftakt in Sardinien war ein großes Fest mit tollen Bildern. Der Giro weiß, wie man feiert, ohne kitschig zu sein. Schnell rückten die beiden Dopingfälle von Bardiani-CSF in den Hintergrund und das Rennen in den Vordergrund. Schöne Sprints, Überraschungen und die frühe Bergankunft am Etna haben das Rennen interessant gemacht. Doch einige Etappen waren einfach einen Tick zu lang um irgendwie spannend zu sein. Klar, zur Streckenplanung gehört viel mehr, als die Kilometerzahl zwischen den Etappenorten, aber die 224 Kilometer von Castrovillari nach Alberobello wird sich wohl niemand mehr auf Youtube angucken. Doch jetzt beginnt der Giro erst so richtig. Die Sprinter sind nach Hause gefahren und sie werden auch bis Sonntag nicht mehr vermisst. Klar, Fernando Gaviria wird hart kämpfen um das Maglia Ciclamino nach Mailand zu tragen, aber dafür wird er jeden Tag auf dem Podium belohnt.

Das große Finale des Giro verspricht Spannung und es könnte ein Spektakel werden, so wie es sich für die 100. Austragung gehört. Erleben wir Spannung bis zum Schluss und sehr interessante Etappen mit vielen Zuschauern und tollen Bildern, dann geht die Rechnung der Streckenplaner auf und es wird ein denkwürdiger Jubiläumsgiro. Dann wird man sicher auch schnell die langweiligen Etappen aus dem Gedächtnis gestrichen haben.