Mark Cavendish Sturz

Man kann sich diesen Sprint hundert Mal anschauen und wird immer wieder das Gesicht verziehen. Wie Mark Cavendish ins Gitter abtaucht und dann John Degenkolb und Ben Swift drüberfliegen ist etwas, was man nicht sehen will. Es sind Profi-Sportler die ihrem Beruf nachgehen, klar. Aber auch Väter und Ehemänner.

Dass niemand solche Stürze sehen will, darüber herrscht Konsens. Wie diese Szene im Detail zu bewerten ist, darüber wird gestritten. Die Jury hat Peter Sagan vom Rennen ausgeschlossen. Vielleicht spielte dabei auch das grundsätzliche Thema „Sicherheit in den Sprints“ eine Rolle.

 

Was war passiert

Im Sprint der vierten Etappe versuchte Mark Cavendish rechts an Peter Sagan vorbeizufahren. Beide berührten sich und Cavendish stürzte in die Bande. John Degenkolb und Ben Swift stürzten über den am Boden liegenden Cavendish.

Das sind die nüchternen Fakten. Stellt man die Schuldfrage für den Sturz, muss man ausholen und es wird kompliziert. Mark Cavendish versucht, die Etappe zu gewinnen und will rechts an Peter Sagan vorbei. Dieser will den Windschatten von Arnaud Demare nutzen und geht ebenfalls rechts rüber, dabei macht er die Tür für Cavendish zu.

Das ist hart, aber bei Sprints nicht nur ein Mal im Jahr zu sehen. Wann Sagan dabei genau merkt, dass da rechts neben ihm jemand kommt, weiß nur er. So kann auch nur er sagen, ob es ihm möglich war, Cav Platz zum „Überleben“ zu lassen. Dass Cav da mit dem Kopf durch die Wand will, bzw. sehr optimistisch durchzieht, obwohl die Lücke zugeht, ist offensichtlich.

Sie berühren sich und Cav hätte den Sturz in dieser Situation kaum mehr vermeiden können. Sagan macht eine Ausgleichbewegung und fährt dabei den Ellenbogen aus. Der Ellenbogen geht sehr weit nach rechts in Cavs Richtung, der bereits aus dem Gleichgewicht ist. 

Während es auf den ersten Blick so aussah, als würde Peter Sagan Cav hart in die Bande schicken, relativierte sich das beim genauen Hinschauen. Doch die Frage von Mark Cavendish, was denn der Ellenbogen da macht, bleibt berechtigt. Zunächst wurde Peter Sagan zurückversetzt, später entschied die Jury den Weltmeister zu disqualifizieren

 

Es ist kompliziert

Der Ausschluss von Sagan wurde mit dem „schweren Fall von Gefährdung eines anderen Fahrers“ begründet. Die Strafe ist hart und nicht wenige Ex-Profis wie Robbie McEwen, Danilo Hondo, Fabian Wegmann und auch Sprinter André Greipel empfinden die Strafe als unangemessen.

Doch es spielen viele Sachen in diesem Fall eine Rolle, auch der Versuch, die Rennen sicherer zu machen. Die Tour ist die Tour und die Fahrer nehmen aufgrund der Bedeutung des Rennens enormes Risiko in Kauf. Zuweilen zu viel, das ist wohl unstrittig.

Die Fahrer wurden vor dem Rennen wohl gewarnt und es war angekündigt, hart durchzugreifen. Doch trifft der Ausschluss eben nur Peter Sagan. Kann man Peter Sagan grundsätzlich rüpelhaftes Verhalten unterstellen? Nein. Setzt er sich in den Sprints vehement und mit vollem Körpereinsatz durch? Ja. Es ist eine Frage der Grenze, und diese ist schwer und individuell. 

Hätte Sagan für Cavendish Platz lassen sollen, wenn er es konnte? Hätte Cav zurückziehen sollen? Hat man nur die Gesundheit der Fahrer im Kopf, beantwortet man die Fragen sofort mit „Ja“. Verdeutlicht man sich, wie wichtig die Tour für die Fahrer, Sponsoren und Teams ist, wird es kompliziert. Dabei ist nur eines klar – John Degenkolb und Ben Swift sind ebenfalls die Leidtragenden und können wirklich nichts dafür. 

 

Eine Entscheidung und die Folgen

Die Entscheidung ist hart, vielleicht auch zu hart. Aber sie ist gefallen und wenn man nun einen Rückzieher macht, wird es in Zukunft wohl noch heißere Diskussionen geben. Dass der Ausschluss von Sagan für Bora-hansgrohe, die Sponsoren und Sagan selbst eine mittlere Katastrophe ist, sollte allen klar sein.

Doch alle Jury-Entscheidungen sollten nachvollziehbar und verständlich sein, auch wenn es in kniffligen Situationen unterschiedliche Meinungen geben kann. Da ist es schwer nachzuvollziehen, dass der Spurwechsel von Etappensieger Arnaud Demare, der dadurch Nacer Bouhanni fast zu Fall bringt, ohne Folgen bleibt.

 

Klare Position, gemeinsames Ziel

Man kann über die Schuldfrage diskutieren und auch die Entscheidung der Jury kritisieren. Es ist wichtig, dass offen gesprochen wird und auch Fahrer wie André Greipel die Größe besitzen, ihre Meinung zu revidieren (siehe Tweet). Denn es geht am Ende darum, den Sport sicherer zu machen und Verletzungen zu vermeiden.

„Die Tour ist so wichtig, da muss man die Fahrer auch vor sich selbst schützen“, hat gestern Nacht ein Ex-Profi zu mir gesagt. Man muss nicht Ex-Rennfahrer sein, um zu verstehen, was gemeint ist. Klare Regeln, eine offene Diskussion und nachvollziehbare Jury-Entscheidungen (auch wenn es unterschiedliche Positionen geben kann) helfen dem Sport. Es muss auch klar sein, dass gerade bei der Tour de France die Fahrer auch eine „Vorbildwirkung“ haben.


 

Was nicht hilft, sind Pseudofans, die im Netz die Fahrer trollen. Wir haben im Radsport, verglichen mit anderen Sportarten, eine offene Diskussionskultur (danke an Twitter), wie das Beispiel Greipel zeigt. So bitter der Sturz und die Folgen für Cav, Sagan und vor allem auch Degenkolb sind – vielleicht ist dieser Fall doch zu etwas gut. Denn nun wird das Thema in größerem Zusammenhang diskutiert, zum Beispiel auch, welche Rolle die Streckenführung spielt.