Wie erklärst du die Faszination dieser Rennen jemandem, der sie nicht kennt?
Ein ganz großer Punkt ist die Tradition. Wenn du dort gewinnst, trägst du dich in Siegerlisten ein, die hundert Jahre zurückgehen – das ist tierisch abgefahren. Die Stimmung bei diesen Rennen ist einfach einzigartig. Wenn du dort zum Einschreiben rollst – das ist einfach Wahnsinn. Du rollst durch ein Spalier von unfassbar vielen Leuten.
Selbst wenn du das kleinste Licht bist, zum ersten Mal dabei – es gibt Leute die kennen dich. Die haben nicht auf die Nummer geguckt, die schauen ins Gesicht und rufen „Da kommt Degenkolb, Degenkolb, ey Degenkolb“. Unfassbar, diese Mentalität. Dieses Feuer was da brennt, das ist einfach abgefahren. Das lässt sich ganz schwer erklären, das muss man eigentlich erlebt haben.
Wenn du in Flandern am Start stehst und es singen einige tausend Menschen „Tom Boonen, Tom Boonen, Tom Boonen“ – wie oft hast du gedacht: „Mist, wärst du doch auch als Belgier geboren?“
(lacht laut los) Natürlich ist das verlockend. Aber das macht es nicht einfacher. Als Belgier hat man es viel schwerer da überhaupt erstmal hinzukommen.
Unterdessen kennt dich eh jeder Belgier, da gehörst du schon dazu.
Ja, das ist schon ein wenig so. Als wir jetzt zum Streckentest in Belgien waren sind wir abends in ein klassisches Radsport-Restaurant gegangen, da erkennen mich die Leute dann schon. Aber dieses Flair dann auch zu spüren, die Trikots und Mützen an der Wand, das war so richtig belgische Radsport-Kultur. Das ist wahnsinnig motivierend für mich, so etwas mitzuerleben. Die Leute finden es mega geil, uns live zu sehen, kurz mit uns zu sprechen.
In Deutschland ist der Kreis derer, der einen erkennt viel kleiner. Wenn ich in Frankfurt auf den Weihnachtsmarkt gehe, sind das vielleicht zwei oder drei. Wenn Greg van Avermaet in seiner Heimatstadt auf den Weihnachtsmarkt geht, kommt der wahrscheinlich keinen Meter voran.
Was für ein Glück, dass du diese Rennen so sehr magst und deine körperlichen Voraussetzungen dazu passen.
Absolut. Auch da muss ich kurz auf Patrick Moster zurückkommen. Ich bin in der U23 immer nur die Ronde gefahren und nie Roubaix, weil das mit der Thüringen-Rundfahrt terminlich kollidierte. Aber damals hat Patrick, da war es noch „Herr Moster“, zu mir gesagt: „John, du bist ein guter Klassikerfahrer, auch gut für die Ronde, aber eines kann ich dir jetzt schon sagen: Du wirst mal Paris-Roubaix gewinnen“. Das weiß ich noch wie heute. Das war ein Satz, der mich bis heute begleitet.
Und wenn du das einmal gewonnen hast, willst du es immer wieder gewinnen. Bei 2 Grad im Dezember stundenlang durch den Regen zu fahren macht keinen Spaß, aber du machst es für den Traum. Mein Traum ist, noch so einen Stein zu gewinnen.
Glaubst du, der zweite Stein ist schwerer zu gewinnen?
Ich glaube, gerade bei einem Rennen wie Paris-Roubaix ist es schon schwerer zum zweiten Mal zu gewinnen. Es ist ein Rennen, da gibt es keinen Glückssieger. Aber wenn man ein unbeschriebenes Blatt ist, dann lassen sie dich vielleicht eher mal etwas weg. Wenn alle wissen, du hast schon so einen Stein zu Hause, dann schauen alle auf dich.
„Wenn wir da heute vorbeifahren, ist das etwas ganz Besonderes. Da denke ich mir jedes Mal: Hier hast du deine Eier in Hand genommen und bist hinterher gefahren.“
Wenn ihr Profis ins Velodrome von Roubaix einbiegt, stellen sich bei tausenden Fans die Körperhäarchen auf. Das Radstadion brodelt, die Stimmung ist irre. Wie ist das für euch im Rennen – nehmt ihr davon irgendetwas wahr?
Wenn du um den Sieg fährst, bist du in einem Tunnel. Dann bekommst du im Velodrome nichts davon mit. Als ich 2015 da reingefahren bin, war ich so unter Strom, ich wusste, dass ist meine Chance. Ich war 100% konzentriert. Es gibt ein Video, da sieht man, wie oft ich mich umgedreht habe. Ich wollte mich einfach nicht überraschen lassen und habe mich fast tausend Mal rumgedreht. Das läuft da alles automatisch ab – da ist man so konzentriert, man bekommt fast nix mit.
An was kannst du dich von 2015 noch erinnern – siehst du das Finale heute noch vor dir?
Es gab die Situation, als uns das Rennen etwas zu entgleiten drohte. Da waren richtig starke Fahrer weg, Yves Lampaert und Greg van Avermaet, da musste ich hinterher. Die Stelle, an der ich damals aus der Verfolgergruppe attackiert habe, kenne ich genau. Wenn wir da heute vorbeifahren, ist das etwas ganz Besonderes. Da denke ich mir jedes Mal: Hier hast du deine Eier in Hand genommen und bist hinterher gefahren.
Das war eine Top-Situation, es hätte an dem Tag einfach nicht besser laufen können. Das vergisst man nicht. So einen Tag brauchst du aber in Roubaix. Du kannst der Stärkste sein, wenn du 2–3 Mal Pech hast, dann hast du keine Chance.
Ist es das Rennen, was am schwersten zu gewinnen ist?
Mhh.
Also von den Rennen, die dir liegen, ich meine jetzt nicht Lüttich-Bastogne-Lüttich.
(Lacht laut los) Ja, das wäre für mich noch schwerer zu gewinnen. Ich denke, diese Rennen, ob jetzt Flandern oder Sanremo – die nehmen sich nicht viel. Es ist bei allen Monumenten brutal schwer zu gewinnen. Kein Monument ist ein Selbstläufer, egal für wen.
Glück, Cleverness, Beine – was braucht man um so ein Rennen zu gewinnen?
Phu. Also mindestens 50% sind die Beine. Du musst top drauf sein um dabei bleiben zu können. Aber der Kopf ist schon extrem wichtig. An sich zu glauben, nicht aufzugeben, sich nicht verrückt machen lassen, an sein Konzept zu glauben. Auch mit einer Favoritenrolle klar zu kommen, das ist nicht einfach.
Wenn du tagelang über dich in der Zeitung liest, dein Name in der Liste mit den Sternen auftaucht – das sind alles Dinge, die dich beeinflussen können. Man kann sich da selbst im Kopf Steine in den Weg legen. Aber auch die Taktik muss passen, das Team muss hinter dir stehen, das Material muss top sein – es gehört so viel dazu, das macht es so schwer.
Ich bin fest davon überzeugt, dass dieser Winter etwas verändern wird.
Liest du vor den Rennen die Artikel – schaust du, wie viele Sterne dir die großen Zeitungen, wie die Het Niewsblad und die L Equipe, geben?
Das bekommt man ganz automatisch mit. Ich gucke jetzt nicht jeden Tag im Internet nach, was über mich geschrieben wird und hab auch keinen John-Degenkolb-Alert. Aber manche Sachen bekommt man dennoch mit.