Richard Carapaz

Bei Richard Carapaz flossen in der Arena von Verona die Tränen. Mit seinem ersten Grand-Tour-Sieg wurde der Ecuadorianer zum Nationalhelden. Mindestens in der Schlusswoche war er der Stärkste in den Bergen und hat die große Chance auf den Gesamtsieg perfekt genutzt. Profitiert hat er dabei aber auch vom Duell zweier Top-Favoriten. Primoz Roglic und Vincenzo Nibali belauerten sich und fuhren hauptsächlich gegeneinander. Wenn zwei sich streiten, freut sich eben der Dritte. 

Clever und stark

Entscheidend für den Gesamtsieg von Carapaz waren zwei Etappen. Zunächst das Teilstück nach Ceresole Reale, als Roglic und Nibali im Finale fast Stehversuche machten und Carapaz angriff und fast 1:20 min aufholen konnte

Carapaz lag vor dieser Etappe 3:16 min hinter Roglic und immerhin 1:32 min hinter Nibali. Roglic hatte schon im Finale der 12. Etappe nicht mitgeführt und sich den Unmut Nibalis eingehandelt. Roglic fühlte sich scheinbar sicher und wollte Nibali die Verantwortung übertragen. Aber für Nibali war Roglic „virtuell“ in Gelb und argumentierte, dass er nachfahren müsse, wenn er diesen Giro gewinnen wolle. So schauten sich beide an und Carapaz zog davon.

Rosa in Courmayeur – die Vorentscheidung

Die Rivalität von Roglic und Nibali sorgte schließlich dafür, dass Carapaz Rosa übernehmen konnte. Seiner Attacke am Colle San Carlo konnte niemand folgen, aber nach der Abfahrt lagen Nibali, Roglic und Co nur rund 30 Sekunden hinter Carapaz. Doch Roglic verweigerte erneut die Nachführarbeit und Nibali wollte auch nicht nachfahren. So wuchs der Rückstand bis ins Ziel auf 1:54 Minuten an! Wäre nicht Nibalis Teamkollege Damiano Caruso wieder in die Gruppe vorgefahren, der Vorsprung wäre noch größer geworden.

Tempo raus – auf dem Weg nach Courmayeur

 

Hätte sonst Nibali den Giro gewonnen? 

Diese Frage ist schwer zu beantworten. Wäre Nibali an diesen zwei Tagen konsequent nachgefahren, hätte Roglic einen Vorsprung verteidigen können. Hätte es dann auch die Attacke von Nibali und den Sturz von Roglic auf dem Weg nach Como gegeben? Hätten sich Landa und Carapaz nach dem Mortirolo auf der 16. Etappe an der Führungsarbeit beteiligt, wenn Carapaz 1 min hinter Nibali gelegen hätte und so den Vorsprung auf Roglic soweit ausgebaut, dass Nibali in der Gesamtwertung vorbeizog? Wie wäre das Finale der 20. Etappe gelaufen, läge Nibali vor Carapaz?

Hätte, hätte Fahrradkette – es ist Spekulation, was wäre wenn passiert. Das Duell von Roglic und Nibali hat Carapaz in die Karten gespielt, aber vielleicht hätte er auch so gewonnen. Nibali sagte, er bereue seinen Giro nicht, auch wenn er Fehler gemacht habe. Kein Fahrer weiß, was am nächsten Tag einer Grand Tour passiert, so kann man jeden Tag taktisch nur so angehen, wie die aktuelle Situation ist.

 

Haben Roglic & Nibali verloren?

Primoz Roglic hat ein gefährliches Spiel gespielt, indem er früh im Rennen die Kooperation verweigerte. Jeder Fahrer kann selbst entscheiden, was er macht, aber die Aktion auf der 12. Etappe, als er nicht mitführen wollte, obwohl es alle anderen Favoriten taten, wirkte nach. Man kann Roglic verstehen, dass er ohne starkes Teams mit seinen Kräften haushalten wollte, aber sich komplett aus der Renn-Verantwortung zu nehmen, wenn man rund 3 Minuten Vorsprung auf die Konkurrenz hat, ist gefährlich. Während dieses Giro ging es nach hinten los. 

Aber auch Nibali ist am Ende ein Verlierer, weil er vor allem gegen Roglic fuhr, als für seinen Sieg. Doch taktische Spiele gehören zum Radsport, und will man sich in eine gute Position bringen, muss man manchmal auch eine Niederlage in Kauf nehmen.

Vermutlich haben einige im Peloton auch die Stärke von Carapaz unterschätzt. Hätten sie gewusst, dass er ohne Schwäche bis nach Verona fährt, hätten sie ihn vielleicht nicht so weit weggelassen, auf dem Weg nach Courmayeur.

 

Ist der Stärkste der Sieger?

Es wäre unfair, würde man Carapaz unterstellen, er hätte nur gewonnen, weil die anderen sich belauert haben. In der dritten Woche wurde deutlich, dass Carapaz und sein Teamkollege Landa die Stärksten bergauf sind. Hätten sie nicht ohnehin schon das Rosa Trikot gehabt, hätten sie wohl anders agiert. Am Manghen konnten Nibali und Roglic nicht mitfahren, als Lopez, Landa und Carapaz angriffen. Auf dem Weg nach Antholz war Carapaz auch stärker als das Duo, wie schon am Passo San Carlo.

Vielleicht hatte Carapaz am Mortirolo gewackelt, aber er konnte sich auf Landa und sein Team verlassen. Movistar hat einen herausragenden Giro gezeigt und war stets präsent. Auch diese Mannschaftsstärke ist ein Grund für den Erfolg von Carapaz.

Es hat der stärkste Bergfahrer dieses Giro gewonnen und man muss sagen, dass es ein absolut verdienter Sieg ist. Auch wenn man sein Pech am dritten Renntag außer Betracht lässt. Denn da hatte Carapaz nach Defektpech fast 50 Sekunden auf die Konkurrenz verloren.

Dieser Giro wäre anders verlaufen, hätte es das Duell zwischen Roglic und Nibali nicht gegeben. Ob es auch einen anderen Sieger gegeben hätte, weiß niemand. Bei Radrennen gewinnt nicht immer der stärkste Fahrer, diesen Giro hat zumindest der stärkste Kletterer gewonnen.