Egan Bernal ist bereit für die Tour, aber auch für die Leaderrolle?
Souverän hat sich Egan Bernal den Gesamtsieg der Tour de Suisse gesichert. Bergauf war er der Stärkste und im Zeitfahren reichte eine ordentliche Leistung, um Gelb zu verteidigen. Nach seinem Sieg bei Paris-Nizza im März ist es der zweite Rundfahrt-Sieg in diesem Jahr. In Katalonien war er Dritter, bei der Kolumbien-Rundfahrt Vierter. Bernal scheint bereit für die Tour de France. Nach dem Ausfall von Chris Froome und dem Sturz von Geraint Thomas bei der Tour de Suisse könnte Bernal beim Team Ineos sogar in die Leaderrolle rutschen. Das könnte für den 22-Jährigen zu einer ziemlich großen Last werden. Schließlich war Ineos in den vergangenen Jahren das dominierende Team und holte reihenweise Gesamtsiege. So würde man im Team vielleicht weiter den Titelverteidiger nach außen als Leader verkaufen, selbst wenn man intern bereits die Taktik umgestellt hat, um Bernal etwas den Druck zu nehmen.
Ob Egan Bernal tatsächlich bereit ist, bei der Tour um den Gesamtsieg zu fahren, wird sich erst im Juli zeigen. Denn die Tour de Suisse war zwar ein sehr bergiges Rennen, aber die Konkurrenz nicht vergleichbar mit der Tour. Von den Top-15 der Tour 2018 war kein Fahrer am Start. Nairo Quintana, Romain Bardet, Dan Martin, Jakob Fuglsang, Steven Kruijswijk, Thibaut Pinot, Richie Porte – sie alle bereiteten sich beim Critérium du Dauphiné auf die Tour vor. So darf man gespannt sein, ob dieses Megatalent tatsächlich am Berg mit den Allerbesten mithalten kann. Sollte er tatsächlich in Paris in Gelb über die Linie rollen, wäre er der jüngste Sieger seit mehr als 80 Jahren.
Rohan Dennis und das Projekt GC-Fahrer
Als Rohan Dennis vor gut zwei Jahren ankündigte, sich auf den Giro 2018 so vorbereiten zu wollen, dass er um einen guten Platz in der Gesamtwertung kämpfen kann, belächelten ihn einige. Dennis kommt von der Bahn, ist ein exzellenter Zeitfahrer, aber kein Kletterer. Den Giro 2018 beendete Dennis auf Gesamtrang 16, fast eine Stunde zurück. Projekt GC gescheitert? Eher nicht. Dennis Wandlung zum Klassementfahrer war ohnehin auf längere Zeit angesetzt. Den Körper „umzubauen“ braucht Zeit. Zuvor hatte sich Dennis voll auf das Zeitfahren von Rio vorbereitet, erlebte dort aber mit technischen Problemen ein halbes Desaster und verpasste eine Medaille. In Innsbruck hat er sich den Traum vom WM-Titel im Zeitfahren erfüllt.
Nun kommt Dennis ins beste Rundfahrer-Alter. 29 Jahre alt ist er vor wenigen Wochen geworden. Er hat den Weg zum GC-Fahrer offenbar akribisch weiter verfolgt. Bei der Tour de Suisse landete er hinter Egan Bernal auf Gesamtrang zwei, schien bergauf stärker denn je und machte einen sehr schmalen Eindruck. Um bei einer großen Rundfahrt eine Top-Platzierung einzufahren braucht es nicht nur Kletter- und Zeitfahrqualitäten. Man muss sich gut erholen, mental stark bleiben und jeden Tag alles geben, um keine Zeit zu verlieren. Die mentale Qualität scheint Dennis zu haben. Bereits in der U23-Klasse gewann er Rundfahrten, bewies auch mentale Stärke. Vor einem Jahr hieß es von Trainer Neal Henderson, dass Dennis 2020 soweit sein könnte, bei einer Grand Tour um den Sieg mitzufahren. So stark, wie er sich bei der Tour de Suisse präsentierte, könnte er schon in diesem Sommer wichtige Erfahrungen sammeln und vielleicht sogar sein besten GC-Resultat bei einer Grand Tour einfahren.
Patrick Konrad in Tourform
Am Ende stand Patrick Konrad auf dem Podium der Tour de Suisse, und er hatte sich die Blumen redlich verdient. Er fuhr in der Schweiz kontinuierlich auf hohem Niveau und gehörte bergauf zu den Besten. In den beiden Zeitfahren büßte er Zeit ein, zeigte aber eine solide Leistung. Konrad ist im Plan für die Tour und kann neben Emanuel Buchmann eine wichtige Rolle im Kampf ums Gesamtklassement spielen. Der eher ruhige Österreicher scheint immer etwas unter dem Radar zu fliegen. Dabei war er es, der 2018 für die beste Grand-Tour-Platzierung des Teams Bora-hansgrohe sorgte. Siebter wurde Konrad beim Giro 2018 und zeigte, dass er auch über drei Wochen auf hohem Niveau fahren kann.
Konrad hat sich in diesem Jahr vor allem als exzellenter Helfer ausgezeichnet. Bei der Baskenland-Rundfahrt ist er für Emanuel Buchmann gefahren und in den Ardennen hat er für Maximilian Schachmann und Davide Formolo wichtige Arbeit geleistet. Bei der Tour de Suisse hat er gezeigt, dass er seine Chancen nutzt, wenn man sie ihm gibt. Seine Entwicklung in den vergangenen Jahren verlief kontinuierlich und er hat sich nach und nach an die Weltspitze herangetastet. Mit nun 27 Jahren kommt er erst ins beste Alter für Rundfahrer. Man muss abwarten, wie es beim Team Bora-hansgrohe mit den Kapitänen Peter Sagan und Emanuel Buchmann bei der Tour läuft, einen Patrick Konrad in dieser Form dabei zu haben, gibt dem Team taktisch eine weitere Option.
Lennard Kämna – ein Ausrufezeichen
Im vergangenen Jahr nahm Lennard Kämna eine Auszeit, machte Pause vom Radsport und kam Ende des Sommers zurück in den Rennbetrieb. „Ich weiß, dass ich Radprofi sein will“, sagte er im Interview während der Deutschland Tour. Kämna galt als Teenager als Riesentalent. Er trainierte in der Nachwuchsklasse extrem viel, kam an sein Limit. Er ist bereits in seinem dritten Jahr in der World Tour, mit 22! Als Kämna nach der Pause zurückkam, gab es skeptische Stimmen. Doch Kämna ist zurück, das kann man nach dieser Tour de Suisse endgültig sagen. Neunter wurde er am Gotthard, zeigte sich auf der Schlussetappe angriffslustig und fuhr stark. Es scheint so, als wäre Kämna zurück im Plan. Megahype, Auszeit, Comeback und gute Leistungen auf World-Tour-Niveau – dieser junger Kerl hat schon einiges erlebt!
Tour de Suisse – im Schatten des Critérium du Dauphiné
Noch vor einigen Jahren war die Tour de Suisse eines der wichtigsten Rennen der Saison. Viel Tradition, schwere Etappen, große Stars und der letzte Gradmesser vor der Tour. Doch nach und nach hat die Tour de Suisse an Bedeutung verloren. In der Startliste der 83. Auflage stand zwar Toursieger Geraint Thomas, aber der Rest der etablierten Weltelite der Rundfahrer war nicht dabei. Mit der terminlichen Überscheidung mit dem Critérium du Dauphiné hat die Tour de Suisse große Probleme. Man kämpft um die Gunst des Publikums, der Sponsoren und der Stars. Mit Tourveranstalter ASO und dem Critérium du Dauphiné hat man einen übermächtigen Gegner. Die Strecke des Critérium du Dauphiné wird so gebaut, dass es perfekt zur Tourvorbereitung passt. Im Aushandeln der Deals mit den TV-Anstalten ist man durch die Rechte der Tour in guter Position und das Rennen als „großer Test der Tour-Favoriten“ perfekt positioniert.
Darauf musste die Tour de Suisse schon in der Vergangenheit reagieren, um den Status zu wahren und eine ökonomische Basis zu erhalten. Nun stehen für die Rundfahrt erneut große Veränderungen an. Denn in Zukunft wird die Veranstaltung von einem Unternehmens-Konstrukt mit Namen „Cycling Unlimited“ organisiert. Man will das Rennen neu ausrichten, um es wieder lukrativer zu machen. Man darf gespannt sein, wie sich das Rennen in Zukunft präsentieren wird.