Dege Pflasterliebe

Es ist ungemütlich, Anfang Februar in Nordfrankreich. Keine fünf Grad, heftiger Wind. Äcker, Wassertürme, alte Kraftwerke – soweit das Auge reicht. An den Rändern der Pflasterstraßen bilden sich Seen. Matsch-Spuren wie Straßenmalerei. Viele mögen es als trostlos empfinden, doch in wessen Brust ein Radsportherz schlägt, spürt den heiligen Boden.
Am Ortseingang der 3500-Einwohner-Gemeinde Hornaing steht auf dem Hof einer Spedition ein kleines Zelt. Der Heizlüfter hat sich vergeblich gemüht. So unfreundlich das Wetter, so herzlich werden die Gäste empfangen. Vincent Talmasse und seine Kollegen vom ortsansässigen Radclub hatten eingeladen. Einige Fans und eine Handvoll Journalisten sind zur Ehrung von John Degenkolb erschienen. Nur 50 Meter vom kleinen Zelt mit Bühne und Tischen entfernt, beginnt der Pflasterabschnitt Hornaing-Wandignies-Hamage – der nun auch John Degenkolbs Namen trägt.

 

 
 
 
 
 
Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an
 
 
 
 
 
 
 
 
 

 

Pavé John Degenkolb 👌 #ParisRoubaix #Legende #Cycling #Pflaster #cobblestone #Cobble #Dege

Ein Beitrag geteilt von CyclingMagazine (@cyclingmagazine) am

Dankbarkeit

Dass ein deutscher Radprofi als erster noch aktiver Sportler überhaupt einen Pavé-Sektor des Monumentes Paris-Roubaix erhält, ist durchaus außergewöhnlich. Das Radrennen Paris-Roubaix ist so alt, dass es die dunkelsten Kapitel der Deutsch-Französischen Beziehung miterlebt hat. „Es ist schön zu sehen, was der Radsport bewirken kann“, sagt Degenkolb sichtlich gerührt.
Er spricht kaum französisch, kannte zuvor nur die kleine Pflasterstraße durch die Gemeinde im Renntempo. Für die Menschen in Hornaing ist er trotzdem einer von ihnen. Und gleichzeitig natürlich ein großer Star. Mit der Rettung des Juniorenrennens von Paris-Roubaix hat sich Degenkolb bei vielen Radsportfans ein Denkmal gesetzt

4 * für Degekolbs Pflaster

Selbst war er das Junioren-Rennen von Paris-Roubaix nie gefahren. Dennoch fühlte er sich verantwortlich, etwas zu unternehmen, als das Rennen 2019 vor dem Aus stand. Denn das Pflaster von Paris-Roubaix ist auch für ihn viel mehr als der brutale Weg zum Ziel. 


Wie John Degenkolb das Juniorenrennen von Paris-Roubaix rettete


Lange bevor er 2015 das Rennen gewann war Degenkolb fasziniert, schaute schon als Kind mit seinem Vater die Pflasterschlacht im Fernsehen. Degenkolb ist immer wieder von der Arbeit des Vereins Les Amis de Paris-Roubaix beeindruckt, dessen Mitglieder das historische Pflaster pflegen. Mit seiner Crowdfunding-Aktion und der beindruckenden Unterstützung der Radsportfans war das Junioren-Rennen 2019 innerhalb von 24 Stunden gerettet. Er setzte damit ein Zeichen – nun wurde er dafür mit „seinem“ Pflasterstück geehrt.
 

Drei Degenkolb-Stelen

Als ich Vincent Talmasse frage, ob er den Sektor zeigen kann, räumt er sofort den Beifahrersitz frei, auf dem die extra angefertigten Degenkolb-Pave-Trikots liegen. Talmasse ist ein quirliger Mann, selbst Hobbysportler, Triathlet. Er stammt aus dem Örtchen und arbeitet bei einem Energieversorger einige Kilometer entfernt.

Der Klubvorsitzende Vincent Talmasse und sein Vize (rechts) besprechen mit dem Fotograf den Ablauf

Degenkolbs Pave-Stück führt durch insgesamt drei Gemeinden. Deshalb sind auch drei Bürgermeister bei der Ehrung vor Ort, erzählt Talmasse während wir über das Pave holpern. Als wir gemeinsam die Schutzhülle von einer der drei Stelen fummeln, erzählt er, dass das Pflaster vor allem von Joggern im Ort genutzt wird. Logisch, denn mit dem Auto meidet man es lieber. Insgesamt drei Stelen wurden am Pave aufgestellt. Eine am Beginn, wo die große Einweihung organisiert war, eine am Beginn des zweiten Teils des Plasterstücks und eine ganz am Ende. 
 
Die schönste Geste
„In unserem Radclub kamen wir auf die Idee und haben im September in einem Meeting mit dem Bürgermeister darüber gesprochen“, erzählt Talmasse, der auch der Präsident ist. „Gemeinsam„, sagt er und zeigt auf seinen Kumpel und Vize-Präsidenten, der interessiert daneben steht, aber dem Gespräch auf Englisch kaum folgen kann. „Die Aktion zur Rettung des Junioren-Rennens war für uns die schönest Geste im gesamten Radsport. Wir haben gedacht, John sollte ein Pflasterstück bekommen und wir haben angefangen uns darum zu kümmern“, so Talmasse.
Die Rückendeckung aus der Gemeinde gab es schnell, die Kosten für die Stelen, immerhin mehrere tausend Euro, wurden bewilligt. Über Facebook schrieben sie dann Degenkolb an, der zunächst nicht recht glauben konnte, dass ihm diese Ehre zuteil werden sollte.
Mehr als 100 Menschen sind bei der Ehrung dabei

Viel mehr als Steine

Fotos, Interviews und die Reden der Bürgermeister. Zudem hat man ein kleinen Film vorbereitet, mehrere Medaillen, einen Präsentkorb und ein Bild als Geschenke für den Deutschen Profi. Es ist keine glattgeschliffene PR-Veranstaltung. Nichts wirkt inszeniert, oder aufgesetzt. Einfach, aber echt. Im Nirgendwo in Frankreichs Norden stehen nun drei Stelen an einem Pflasterweg, der nur einen Tag im Jahr von Bedeutung ist.

Bürgermeisterrede – geht auch dazu

Nur wer den Radsport kennt weiß, welch große Ehre das ist. Sie zeigt, dass es nicht um Nationalitäten, Teams oder Clubs gehen muss. Hier sind es die Passion, der Respekt und die scheinbar absurde Liebe zu einem anachronistischen Radsport-Spektakel, die zählen. 
Für Vincent Talmasse war es ganz sicher ein großartiger Tag. Wie es für John Degenkolb sein muss, kann man sich kaum vorstellen. An dem Rad, auf dem er Paris-Roubaix vor fünf Jahren gewann, klebt noch heute der Schmutz von damals. Er hat es genau so behalten. Der Stein, die Siegertrophäe, hat einen Ehrenplatz. Wie muss es sein, wenn sein Vorderrad das Pavé erreicht, das seinen Namen trägt? Vielleicht wird ihm erst so richtig klar, was diese Ehre bedeutet, wenn er später selbst mal als Zuschauer am Pflaster steht und anderen beim Leiden zuschaut.
Ehrensache – Fan-Fotos

Am 12. April wird das Peloton von Paris-Roubaix über den Sektor 17 donnern. 3.700 Meter. Secteur John Degenkolb. Vielleicht wird John Degenkolb kurz Gänsehaut bekommen. Vincent Talmasse und seine Freunde vom Radclub Hornaing werden für die entsprechende Kulisse sorgen, soviel ist sicher.