Torsten Nitsche

In jedem Jahr wird in der Woche vor Paris-Roubaix stündlich der Wetterbericht gecheckt. Für die Herbstauflage 2021 heißt es fünf Tage vor dem Event, dass es tatsächlich regnen soll! Gibt es tatsächlich eine verregnete „Hölle des Nordens“? In den vergangenen Jahren waren die Pflasterpassagen meist wenige Tage vor dem legendären Rennen noch schlammig, aber es trocknete rechtzeitig ab.
Die letzte matschige Austragung der Königin der Klassiker liegt nun schon einige Jahre zurück. Ist es nass, in der „Hölle des Nordens“, gibt es eine epische Schlammschlacht auf glitschigem Pave. Wir haben mit vier Fahrern, die bei der letzten „nassen“ Austragung dabei waren, darüber gesprochen, was ein nasses Paris-Roubaix bedeutet. 
 

Torsten Nitsche (Foto oben) – 2002 beim Team Saeco, 31. 

„Ich kann mich noch sehr gut erinnern“, sagt Nitsche und seine Stimme bekommt einen besonderen Klang. „Unser Saeco-Team befand sich im Umbruch, wir hatten alle freie Fahrt und der Teamchef kam vor dem Rennen noch zu mir und sagte, wie wichtig das Rennen dennoch sei. Er warnte, dass es durch die Nässe extrem schwer werden würde – er hatte Recht“, sagt Nitsche und lacht.
„Es gab einen harten Kampf um die Gruppe damals, das hatte ich so gar nicht erwartet. Ein gewisser Tom Boonen war damals in der Gruppe und hat „überlebt“. Am Ende stand er auf dem Podium, bei seinem ersten Roubaix.
Ich kann mich gut erinnern, Raphael Schweda war einer der letzten, die noch hingesprungen sind, als die Gruppe entstand. Ich war nicht weit weg, bin aber sitzen geblieben. Die Gruppe war groß und einige sind vorn geblieben. Raphael wird am Ende 11., nach einem starken Rennen. Vielleicht hätte ich da besser mitgehen sollen“, sagt Nitsche halb im Scherz.
Nitsche war ein starker Klassikerfahrer, musste seine Karriere wegen eines Herzfehlers aber früh beenden. Er hat nach dem Karriereende ein Ingenieurstudium abgeschlossen und lebt heute mit seiner Familie in Thüringen. 

Raphael Schweda (links), Paris-Roubaix 2002

Es ist brutal, wenn es nass ist. Du kannst gar nicht korrigieren. Du gehst in der Mitte auf das Pflaster, aber wenn es dich irgendwie raustreibt, musst du es laufen lassen. Es ist so glitschig, wenn du da gegensteuern willst, haut es dich hin. Dann musst du Glück haben, dass keine Zuschauer im Weg stehen. Auf dem Pave liegen plötzlich Fahrer vor dir rum und du versuchst nur irgendwie durchzukommen“, erinnert sich Nitsche. 
„Ich bin damals am Hinterrad von Andrea Tafi aus dem Wald von Arenberg gekommen und habe mich an diesem Tag echt gut gefühlt. Ich hatte nur 2-3 Defekte, aber einen leider vor der Verpflegung und musste viel Kraft aufwenden, wieder zurückzukommen. Nach dem Wald von Arenberg hat sich ein Credit-Agricole-Fahrer vor mir so übel auf die Fresse gelegt, das sehe ich heute noch vor mir.
Ich hatte dann in einem 4-Sterne-Pflasterstück eine Schwächephase und musste loslassen. Die Abstände an diesem Tag waren riesig und ich bin am Ende so um Platz 30 angekommen. Von uns hatten nicht viele das Rennen beendet, da gab´s im Camper wenigstens eine warme Dusche“, lacht Nitsche. Ein gewisser Mathew Hayman erreichte 10 Minuten nach Nitsche das Ziel und flog aus dem Zeitlimit.

Torsten Nitsche (ganz rechts), Paris-Roubaix 2002

„Wenn es nass ist, merkst du genau, wer Bock hat. Da teilt sich das Feld schon am Start. Ich fand es großartig. Ich kannte natürlich das Risiko und du musst immer abwägen – aber für mich hat es sich angefühlt, als würden große Jungs im Schlamm spielen“, sagt Nitsche.
 

Andreas Klier, 2002 beim Team Telekom, DNF

Andreas Klier, Paris-Roubaix 2002

„Es war Gegenwind an dem Tag und ich war mit Tom Boonen in der Spitzengruppe. Wir wussten, dass er schnell treten kann, aber er war noch kein Star“, erinnert sich Klier. „Wir dachten, lassen wir ihn mal fahren. Und er ist gefahren, gefahren und gefahren. Ich dachte gut, das ist ein junger Fahrer und er ist praktisch die ganze Zeit von vorn gefahren – dem wird später schon das Licht ausgehen.
Nach und nach sind immer mehr Fahrer aus der Gruppe zurückgefallen und irgendwann war auch ich an der Reihe und konnte nicht mehr, aber er ist einfach weitergefahren und weiter und weiter. In diesem Moment war mir klar, mit wem ich da Rad fahre. Ich denke, er hätte das Rennen sogar gewinnen können, wenn er nicht auf George Hincapie hätte warten müssen. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie mein Rennen weiterging“, erzählt Klier.

Sein Stern ging auf: Tom Boonen bei Paris-Roubaix 2002

„Es ist extrem rutschig und sehr langsam, wenn es nass ist. Das kommt älteren Radfahrern entgegen, weil sie gleichmäßig hohe Geschwindigkeiten mit relativ viel Poweroutput fahren können“, so Klier. Gefragt nach einem Tipp grinst Klier und sagt: „Augen zu und durch“.
„Das größte Problem ist bei Regen das erste Pave. Weil alle Sportlichen Leiter sagen, man muss vorn sein, und wirklich alle Fahrer wollen vorn sein. Danach ist es ein normales Radrennen, mit all den technischen Möglichkeiten, die man heute hat“, so Klier.
Der Schlüssel bei diesen Rennen ist: Wie gehst du in die Kurve auf dem Pflaster und wann kannst du wieder beschleunigen. Wenn es nass ist, fährst du dreimal so langsam in die Kurve. Wenn du die richtigen Bike-Skills hast und fängst zwei Meter früher als der andere mit treten an, dann sparst du mit der Zeit ziemlich viel Kraft“, so Klier, der heute als Sportlicher Leiter beim Education First arbeitet und 2019 mit Alberto Bettiol den Sieg beim Monument Ronde van Vlaanderen feierte.
 

Rolf Aldag, 2002 beim Team Telekom, 25.

Rolf Aldag, Paris-Roubaix 2002

„Ich bin zwei Mal Roubaix im Regen gefahren, das eine Mal bin ich an der zweiten Verpflegung ausgestiegen. Da war für mich nix mehr zu holen, außer vielleicht sich das Schlüsselbein zu brechen. Das war das einzige Mal, dass ich Roubaix nicht zu Ende gefahren bin“, erzählt Rolf Aldag. Im Jahr 2002 beendete er das Rennen als 25.
„Ich kann mich auch erinnern, dass es mich im Regen mehrmals geschmissen hat, weil das Vorderrad wegrutschte. Das ist dann ein reines Glücksspiel„, so Aldag, der lange für das Team Dimension Data gearbeitet hat und nun für Bahrain-Victorious tätig ist. „Es war nie meins gewesen, im Regen. Du weisst nicht wie tief die Pfützen sind, kannst da drin steckenbleiben und dir den Hals brechen. Nein, das war nicht meine Präferenz. Ich bin 15 mal gestartet, aber die Sachen im Regen bleiben irgendwie schon hängen“, führt Aldag aus.
„Jeder Fahrer liebt die Rennen, die ihm liegen, so gibt es sicher auch Steuerkünstler, die das mögen. Walter Godefroot (Anmerk. damaliger Manager beim Team Telekom) hat bei den Klassikern immer aus dem Fenster geguckt und wenn es nass war dann gesagt: „Heute müsst ihr nur 50% des Pelotons schlagen, denn die andere Hälfte sind Italiener und Spanier, die schon keine Moral mehr haben“. So sind die Belgier. Aber als Fahrer guckst du dann im Bus rum und denkst, na gut, hier sind 70% nicht motiviert“, führt Aldag gewohnt pointiert aus.

Der Paris-Roubaix-Sieger 2002, Johan Museeuw

„Das Reinsprinten in die Pflasterstücke ist immer übel, aber solches Wetter macht es dann nicht besser. Du musst dann die ersten Pflaster überstehen, denn nach 2-3 Paves sind alle in der Realität angekommen und es wird ruhiger. Das Spezielle bei Paris-Roubaix ist, dass am Start rund 70 Fahrer gewinnen können und die alle ihre Chance suchen wollen. Denn die Historie hat mit Vansummeren, Backstedt, Tafi und Co gezeigt, dass ein Außenseitersieg durchaus möglich ist. Deshalb auch diese Reinhalterei und die Fallerei. Nach 200 Kilometern hat sich dass dann aber auch so ziemlich erledigt“, so Aldag.
Angesprochen auf den Tipp von Andreas Klier, der „Augen zu und durch“ als die beste Taktik ausgab, lacht Aldag los. „Augen zu ist schon mal ganz schlecht. Ich würde eher sagen: Augen auf und drumherum„, fügt er lachend an. „Man sieht ja eh kaum was, die Brille ist nach wenigen Kilometern verdreckt und du musst sie absetzen. Dann hast du nur noch Schlamm und Dreck im Auge. Manchmal ist es auf dem Pflaster besser, wenn man einen Meter Platz lässt, dass man noch drumherum fahren kann, wenn es vorn einen hinlegt“, so Aldag. 
 

Erik Zabel, 2002 beim Team Telekom, 26.

Erik Zabel (rechts), Paris-Roubaix 2002

„Paris-Roubaix bei Nässe, mit all dem Schlamm und Modder ist das Rennen langsamer. Die „Diesel“ im Feld sind dann im Vorteil“, sagt Erik Zabel. „Für mich war das nichts. Ich bin drei Mal bei Regen gefahren und weiß gar nicht, ob ich überhaupt mal ins Ziel gekommen bin. Wenn man da einmal schlechte Erfahrung gemacht hat, wird es beim nächste Mal nicht leichter“, so Zabel.
„Jeder Fahrer bekommt vor dem ersten Pflasterstück die Ansage: ihr müsst vorne fahren. Das ist dann purer Stress. Alle wollen vorn fahren, weil es danach dann irgendwie ein Überlebenskampf wird. Nach den ersten zwei langen Pflasterstücken sind von den 170 Fahrern 85 weg und kommen nie wieder. So will jeder vorn reinfahren um sein Rennen irgendwie zu retten, aber das ist halt unmöglich. Das Rennen ist dann noch härter“, so Zabel.
„Die Fahrer, die Paris-Roubaix in den Genen haben, die schaffen es immer irgendwie. Aber wer auch etwas Glück und das Momentum braucht, der ist dann schon etwas nervös. Aber jeder will es irgendwie versuchen, um die Erwartungen zu erfüllen. Das führt dann natürlich zu einer enormen Härte im Rennen“.
„Ab einem bestimmten Moment im Rennen nimmt man den Schlamm und die Nässe gar nicht mehr wahr. Irgendwann muss man sich der Brille entledigen und man ist im puren Kampf mit den Elementen“, so Zabel.
„Wenn es trocken ist, kann man in der Mitte auf dem Pflaster, aber auch rechts und links fahren. Aber wenn es nass ist, kannst du eigentlich nur in der Mitte fahren. So kann man nur hintereinander fahren, ist das Feld viel länger und meist reißt es auch irgendwann. Wenn das Feld dann wieder auf den Asphalt kommt, muss man wieder viel Kraft aufwenden, um vor zu kommen. Irgendwann fehlt dann einfach die Kraft und man schafft es nicht mehr nach vorn“, führt Zabel an.
„Mein erstes Regen-Roubaix war der epische Kampf von Andrej Tschmil gegen Museeuw 1994. Damals war ich ehrlich gesagt ganz schön überfordert und kam gar nicht zurecht. Das zweite Mal im Regen weiß ich noch, dass ich vorn reingefahren bin und dann einen Reifenschaden hatte. Jan Schaffrath hatte mir ein Rad gegeben und ich war wieder zurück im Spiel. Aber Rolf (Anmerk. Aldag) war schon im ersten Pflaster in einen Sturz verwickelt und wir haben uns erst nach dem dritten Pflaster auf Position 50 wiedergetroffen. Damals war nicht überall TV im Auto und Walter Godefroot war nur an Rolf vorbeigefahren und hatte gesehen, dass schon das komplette Trikot voller Matsch war und er bereits gestürzt war. Er hatte natürlich nicht gesehen, dass ich schon das Laufrad gewechselt hatte. Er ist dann einfach an uns vorbei gefahren, weil er dachte, wenn man so schlecht ist, dass man nach dem 3. Pflasterstück schon so weit zurück ist, braucht man auch keine Unterstützung mehr. Rolf und ich haben dann bis zur zweiten Verpflegung voll gekämpft, weil wir anhand des Helikopters sehen konnten, dass wir nicht weit zurück waren. Aber immer, wenn wir auf dem Asphalt näher gekommen waren, standen auf dem Pflaster die Autors kreuz und quer und wir mussten Slalom fahren und teilweise anhalten – zack waren wir wieder 20 Sekunden dahinter. Das war so ermüdend, auch mental, dass ich dann nach einem weiteren Schaden aufgeben habe. Aber Rolf, der hat einfach nie aufgegeben und ist am Ende 16. geworden. Das war sehr beeindruckend und deshalb sage ich auch meinen Radfahrern immer – nie aufgeben!„. 


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