Dauphine

Es sollte sicher ein Zeichen sein – alle WorldTour-Rennen (abgesehen von denen, die bereits abgesagt wurden) sollen nahgeholt werden. Ein Herbst voller Radrennen, sollte es tatsächlich so kommen, wie es der aktuelle Plan vorsieht. Die Aussicht klingt toll – die großen Radrennen finden statt, die Sponsoren sind glücklich, die TV-Sender stürzen sich, nach Absage von EM und Olympia geradezu auf den Radsport. Die wankenden Teams können sich retten, auch wenn die Firmen auf den Trikots große Probleme haben. Das berühmte blaue Auge, mit dem Radsport dank des Superherbstes davonkommt. Einfach wird das nicht, denn es gibt eine ganz Reihe von Problemen. Hier nur eine Handvoll etwas ausgeführt.
 

1. Unsicherheit 

Am ersten August soll es losgehen. Mit dem Neo-Klassiker. Dem wunderschönen Radrennen durch die Toskana. Staubverkrustete Gesichter, supersteile Schotteranstiege und das wunderschöne Finale in Siena. Strade Bianche – ein epischen Rennen. Am ersten August 2020? In dem europäischen Land, dass von der Corona-Pandemie so hart getroffen wurde, dass Krankenhäuser überlastet waren, viele Menschen starben, lange Zeit extreme Ausgangsbeschränkungen galten und die Wirtschaft sehr hart getroffen wurde? Ist das realistisch? Ist der Reiseverkehr bis dahin überhaupt soweit geöffnet, dass dies möglich ist? Werden sich die Behörden trauen, eine Genehmigung zu erteilen? Gibt es für ein Gesundheits-Konzept die Chance, in allen Ländern gleich umsetzbar zu sein? … 
Es könnte ein tolles Signal sein, ohne Frage. Wenn ausgerechnet in Italien der Startschuss fällt, für das erste große Rennen. Für die Zeit nach der Krise, die viele Menschen sehr hart getroffen hat. Ist man weder Virologe, noch Politiker, ist es ein gut zusammenrecherchiertes Bauchgefühl, dass einem sagt, ob man daran glaubt oder nicht. Sicherheit besteht nicht. Kann nicht bestehen, in dieser Zeit. Deshalb wird das Gefühl der Unsicherheit alle beteiligten begleiten – der Kalender bleibt eine Idee. 

 

2. Eine Tour, die alles überstrahlt

Sollte Ende August die Tour de France starten – es wird wohl das krasseste Peloton aller Zeiten sein. Es ist das größte Rennen, der Hauptgrund sämtlicher Sponsorenengagements. Die Tour, mindestens die Tour soll es doch bitte geben, denn sie ist der Herzschrittmacher des Radsports. Gibt es keine Tour, … ach, man mag gar nicht daran denken.
Die logische Konsequenz ist, dass alle ihr bestes Team zur Tour schicken wollen. Alle Fahrer wollen bei der Tour starten, denn es ist die große Bühne, 2020 noch größer als sonst. Doch was bedeutet das für die Fahrer, die da nicht starten? Deren Vertrag vielleicht ausläuft. Noch nie war es einfach für Teammanager, einem Fahrer abzusagen, der den Tourstart vor Augen hatte. In diesem Jahr wird es nicht einfacher. Und was bedeutet diese Ultra-Tour für die kleineren Rennen, die vielleicht zu einer ähnlichen Zeit stattfinden? Was bedeutet diese absolute Konzentration für die Zukunft des Radsports? Ist es ein weiterer Schritt weg, von einem Gleichgewicht in diesem so fragilen Sport, der seit Jahren vergeblich darum kämpft ein wenig festen Stand zu gewinnen? Einfache Antworten wird es nicht geben. Schon gar nicht auf die Frage, was passiert, wenn es dann doch keine Tour gibt.
 

2. Sportliche Planung der Teams 

Der Rennkalender steht nun und die Teams müssen planen, als würde es genau so kommen. Die Fahrer sind wie Rennpferde in der Startbox – sie wollen endlich loslegen und zeigen, was sie drauf haben. Dass man nun jeden individuellen Saisonplan komplett neu aufsetzen muss, ist klar. Wer fährt wo, wie lässt sich am meisten rausholen? Was sonst recht einfach erscheint, ist nun keine leichte Aufgabe. Es gibt nur noch einen Rennblock, für die gesamte Saison. Die Tour ist mit nahezu allem kombinierbar, aber Giro, Ardennen, Pflaster-Klassiker und Vuelta sind kaum kombinierbar. Bezieht man die Tour of Guanxi mit ein, müssen die Teams im Oktober viergleisig, für einige Zeit sogar fünfgleisig planen. Phu, da wird es selbst mit üppiger Personaldecke mächtig eng. 
Gut geplant kann man die Highlights ordentlich auf die Kapitäne aufteilen, aber was ist mit den jungen Fahrern, die dann ab spätestens September Vollgas geben müssen, ohne längere Rennpause? Dazu kommen dann noch die Rennen der zweiten Kategorie, Einladungsrennen, wo teilweise Antrittsprämien fließen und es gültige Verträge gibt.
Nimmt man beispielsweise das Team Sunweb, wo zum Saisonstart 14 Fahrer, also fast die Hälfte der Profis, 23 Jahre alt oder jünger waren. Wo nur drei Fahrer älter sind als Nikias Arndt, der Mitte November sein 28. Lebensjahr vollendete. Können die jungen Burschen von September bis Ende Oktober Vollgas durchballern, ohne große Pause? Was passiert dann in der nächsten Saison, mit den jungen Kerls? Oder auffüllen mit Stagiaires? Phu, das wird nicht einfach. 
 

3. Organisatorisches Puzzle

Wenn fünf Radrennen gleichzeitig stattfinden, ist das nicht leicht zu organisieren. Material, Fahrer, Personal, …. alles muss von irgendwo hin zum Rennen. Welche Dimensionen das berührt und welche Probleme das mit sich bringt, hat uns Theo Maucher vom Team Israel Startup Nation im Podcast (unten) eindrücklich erklärt. Nun wird es zwischen den Rennen kaum Pausen geben. Das erhöht den organisatorischen Druck enorm und macht die Arbeit komplizierter. Es wird ein kompliziertes Puzzle, das schon ohne Reisebeschränkungen nicht einfach zu lösen ist. Kommen diese Probleme noch hinzu, wird es brutal.
 
 

4. Die Zukunft der Fahrer

Es gibt eine ganze Reihe von Fahrern, deren Verträge auslaufen. Zeigen können sie sich nicht. Dazu scheinen einige Teams in ernsten Problemen zu stecken. Die Teams und ihr Budget wird vom Rest der Saison beeinflusst – das dürfte dazu führen, dass man zunächst zurückhaltend mit neue Verträgen agieren wird. Das bedeutet: Abwarten. Die Top-Fahrer werden unterkommen, aber meist hängt an den Transfers einiger Top-Fahrer auch die Zukunft eines Helfers. Denn die Teams agieren zurückhaltend mit dem Budget, gibt es noch die Chance auf einen Top-Fahrer zu günstigen Konditionen. Das alles passiert sonst auch, aber ab Sommer. In dieser Saison wird auch dieses Thema geballt im Herbst für Wirbel sorgen. Keine schöne Situation für Profis. Aber auch keine für den Nachwuchs, denn, sollte das Budget der Profi-Radsportwelt wirklich schrumpfen, sind nicht nur ältere Fahrer betroffen, sondern auch Talente auf dem Sprung.
Und an dieser Stelle haben wir neben den Nachwuchsfahrern nur die WorldTour-Profis betrachtet. Was bei den Pro-Teams und den vielen Fahrern in den aktuell 19 „Zweitligateams“ passiert ist, ist ebenso komplex. Auf wie viele Renntage können sie kommen? 30000 Trainingskilometer für eine Handvoll Renntage, wenn die Tür in die WorldTour mindestens geschlossen, für viele aufgrund der Situation vernagelt erscheint? Und an dieser Stelle sei noch einmal auf Punkt 1 verwiesen – Unsicherheit. 

 

5. Angst vor Doping

Es ist unterdessen bekannt, dass während der Einschränkungen der Corona-Pandemie auch der Anti-Doping-Kampf gelitten hat. Es wurde viel weniger Tests durchgeführt und es bleibt die Angst, dass dies Doper ausnutzen. Es bleibt die Hoffnung, dass mit dem Blutpass einige Betrüger ertappt werden. Aber egal was passiert, das Misstrauen wird den Sport im Herbst begleiten. Ist der Fahrer wirklich nur besonders gut mit der Krise umgegangen, hat er super gut trainiert und erntet jetzt die Früchte der Arbeit?  Oder ist da mehr? Diese Fragen werden kommen, denn der Radsport hat in der Vergangenheit selbst für sein unterirdisches Image gesorgt.
Ja, es ist bedeutend besser, als in den Hochzeiten von EPO, Omerta und vertuschten positiven Tests. Aber das alles ist nicht vergessen. Die Bewährungszeit ist nicht vorbei, die Skepsis stetiger Begleiter. Was wird also passieren, wenn ein Fahrer, der über gigantisches Potenzial verfügt, aber bislang wenig Erfolg vorzuweisen hat, endlich durchstartet? Für Experten und Insider vielleicht nachvollziehbar, aber wie mag es der normale ARD-Zuschauer sehen, wenn nur ein Teil des Pressezentrums in der Lage ist, zumindest halbsolide einordnen zu können?  Da müssen wir nicht nur auf Fahrer wie Remco oder Pogacar schauen, deren Erfolge bei Procyclingstats leuchten. Gaudu, Hart, Hindely, Ciccone, Hagen, Knox, Bouchard,  Cosnefroy, Higuita, Großschartner, Sivakov, Carretero, Valter, Brunel, Alba, Inkelaar, Martinez, …. es gibt so viele talentierte Fahrer, die auf dem Sprung sein könnten.
Der Sport wird nach Corona auch gegen den Verdacht kämpfen müssen und muss dies ernst nehmen und auch als Chance sehen, sich zu beweisen, mit Transparenz und Vehemenz. Für die unschuldigen Fahrer fühlt sich das unfair an, denn sie können nichts dafür. Aber lamentieren hilft auch bei diesem Thema nichts.
 
 
Es gibt weit größere Probleme auf der Welt, als ein Radsport in der Corona-Krise. Doch dies macht es nicht einfacher, Lösungen für die komplexen Problemstellungen des Sports zu finden. Am Ende entscheidet über die Straßenrad-Saison 2020 kein Team, Sponsor oder Radveranstalter, sondern die Behörden, die Rennen genehmigen müssen. Schließlich kann man nicht in Stadien spielen. Betrachtet man das Thema „Schutz der Gesundheit der Menschen“ ist dies wohl auch gut so.