109. Paris-Roubaix, 10. April 2011 


Mehr als sechseinhalb Stunden im Sattel und in der Ergebnisliste steht neben meinem Namen „OTL“ – Over Time Limit. Mein bester Tag auf dem Rad? Ganz sicher nicht meine beste Leistung, aber ein besonderer Tag. Ein Schlüsselerlebnis für meine gesamte Karriere. Mein erstes Paris-Roubaix.
Kaltes Wasser
Es war mein erstes Profijahr. Ich bin sehr gut in die Saison gestartet, konnte bei der Tour de Langkawi im Januar sogar eine Etappe gewinnen. Rennen im Januar – das war für mich völlig neu. In der U23 war ich bei Jens Lang zu dem Zeitpunkt vier Mal 20 Minuten auf dem Laufband und bin auf der Rolle gefahren. Aber da ging die Saison auch erst drei Monate später los.
Wir hatten 2011 ein tolles Team und ich habe mich sehr wohl gefühlt. Das lag auch an unserem Coach, Marijn Zeeman. Mit dem Sieg in Langkawi hatte ich ein Ausrufezeichen gesetzt. Aber dann kommst du im Februar nach Europa, zu den Klassikern – dem Ort wo es richtig abgeht. Das ist eine ganz andere Welt und ich wusste nicht, was mich erwartet. Das berühmte kalte Wasser. 
Respekt, Neugierde und eine Portion Angst
Mein erstes Rennen in Belgien war der Omloop Het Nieuwsblad. Fünf Grad, Regen – die Belgier haben sich die Hände gerieben. Ich erinnere mich, wie John Degenkolb in der Neutralisation neben mir fuhr und erzählte, wie geil seine neue Team-Highroad-Regenjacke sei. Die Tropfen perlten ab und rannen hinab. Ich war bereits komplett durchnässt. Das Ziel habe ich an diesem Tag nicht gesehen. 
Beim Scheldeprijs einige Wochen später wollte ich rein schnuppern. Paris-Roubaix sollte dann mein Highlight im Frühjahr werden. Die Königin der Klassiker – da wollte ich einen raushauen. Aber schon der Recon war schmerzhaft. Bert de Backer tapte sich vorher der Hände und ich dachte, was hat der denn beim Recon vor?
Ich habe meine Lektion dann aber schnell gelernt, denn es war eine Challenge überhaupt das Training zu überstehen. Allein die Vorbereitung war speziell, Reifendruck, Strecke, Fahrlinie auf den Sektoren – es gibt so viel zu lernen über dieses Rennen, aber mich hat genau das fasziniert. Ich empfand großen Respekt, Neugierde und auch eine Portion Angst. Ich wusste nicht was mich erwartet – sowas mag ich nicht.

Marcel Kittel – Paris-Roubaix 2011

Die Hölle
Meine Rolle war klar – Tom Veelers so gut es geht unterstützen. Meine Form war gut und ich wollte mich beweisen. Die ersten 100 Kilometer nur Autobahn. Mit 3,5 Bar in den Reifen schwimmst du dahin und es kommen Typen wie Fabian Cancellara ganz entspannt an dir vorbei. Dann ging es ins erste Pavé. Es war die Hölle. Positionskampf, dann Vollgas aufs Pflaster. Das war richtig krass. Aber ich habe gemerkt: Ich mag das! Ich hatte die richtige Einstellung dazu und war mental bereit und absolut entschlossen.
Endloses Warten
Nach rund 170 Kilometern hatte Tom Veelers einen Platten. Ich war der einzige Fahrer, der bei ihm war. Runter vom Rad. Schnell sein Hinterrad raus, meins rein. Anschieben mit Radschuhen – im Chaos dieses Rennens. Ich hatte genau das gemacht, wofür ich da war – ich half meinem Kapitän. Tom hatte keinen perfekten Tag, aber landete am Ende in den Top30. 
Mit kaputtem Rad stand ich da. Es dauerte ewig. Keine Ahnung, welche Nummer wir im Konvoi der Begleitfahrzeuge waren, aber bei Paris-Roubaix ist das irgendwann eh egal. Mein Job war getan und ich stand Ewigkeiten mit dem Rad in der Hand am Streckenrand. Es bretterte das Feld an mir vorbei und im Staub der Begleitfahrzeuge hielt ich nach unserem Auto Ausschau.
Dann hatte ich irgendwann ein neues Rad drin, aber ich wusste einen Moment nicht, was ich machen sollte. Es waren noch knapp 100 Kilometer und es war fast keiner mehr da. Natürlich bin ich erst mal losgefahren. Aber die Frage blieb: Was mache ich jetzt?
Trotz
Paris-Roubaix ist magisch – die Zuschauer sind unfassbar geil. Unsere Gruppe wurde all­mäh­lich größer und ich hatte das Gefühl, dass wir langsam wieder in Schwung kamen. Aber einer nach dem anderen in der Gruppe stieg aus. Verständlich, denn an diesem Tag konnten wir mit unserem Rückstand auf das eigentliche Rennen eh keinen Einfluss mehr nehmen. Aber für mich war es auch mein Rennen. An der zweiten Verpflegung setzte mein Trotz ein. Wenn sie nicht wollen, dass ich das Velodrom erreiche, müssen sie mich von Rad holen. 
Die Zuschauer an der Strecke wissen genau: Wenn du den Besenwagen noch nicht gesehen hast, kommen noch Fahrer. Ich war längst mehr als eine halbe Stunde hinter der Spitze und kämpfte mich voran. Aber die Fans haben mich genauso angefeuert wie die Spitze. Vielleicht sogar noch mehr, denn vermutlich hatten sie noch ein Bier mehr drin und brüllten noch lauter. Mann muss es erlebt haben, um eine Vorstellung zu bekommen, wie sich das anfühlt.  
Ich bin nie wieder irgendwo in eine Gruppe gekommen. Ich habe eine Handvoll Abgehängte eingesammelt und war dann doch wieder allein, weil einer nach dem anderen rechts oder links abgebogen ist. Aber ich wollte ins Velodrom. Unbedingt.
Die Runde im Velodrom
Zweieinhalb Stunden lang kämpfte ich in der wunderbaren „Hölle des Nordens“. Am Ende waren wir auf den letzten Kilometern zu zweit, mehr als 40 Minuten nach dem Sieger, lange aus dem Zeitlimit. Auf dem letzten Pavé kam das Glücksgefühl. Mit Dreck in der Fresse und völlig fertig erreichten wir das legendäre Velodrom. Wir hatten so ein Schwein, dass sie uns noch reingelassen haben. Viele Zuschauer waren nicht mehr da und die Aufräumarbeiten waren längst in vollem Gange. Ich musste erst mal überlegen, wie viele Runden wir überhaupt fahren müssen, so fertig war ich.
Diese Ankunft in unglaublich. Man kann es mit dem Champs-Élysées am Ende der Tour vergleichen, auch das ist magisch. Roubaix, Paris und die Ankunft von Mailand-Sanremo – das sind die Top3 Zielgeraden der Welt. Du wirst Profi, weil du Radfahren willst. Weil du diese Rennen selbst fahren willst. Ob das Finale der Tour in Paris, oder das Velodrom von Roubaix – das sind die Orte, wo Kindheitsträume in Erfüllung gehen. Selbst mit 40 Minuten Rückstand.

 

 
 
 
 
 
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Anerkennung im Bus
Ich kann mich sehr gut an die Situation erinnern, wie ich in den Teambus kam. Es war der schönste Moment. Ich wurde fast wie ein Sieger gefeiert. Eine Ladung Anerkennung und Respekt, weil ich es durchgezogen hatte und nicht aufgab. Solch ein Erlebnis schweißt zusammen, auch wenn man größtenteils für sich selbst gekämpft hat.
Es war ein sau harter, aber auch sehr schöner Tag. Für meine Karriere ein Schlüsselmoment. Ich wollte unbedingt auf die Rennbahn und ich habe es geschafft. Das war für mich selbst wichtig, aber ich bekam dafür auch die Anerkennung vom Team – der sieht zwar fett aus, aber er hat auf jeden Fall was drauf und gibt nicht so einfach auf.
Paris-Roubaix, ich komme wieder
Mit vielen der Jungs aus meinen ersten Profijahr bei Skil-Shimano haben wir später große Siege gefeiert. Daran war damals in Roubaix natürlich so noch nicht zu denken. Meine Profi-Karriere ist unterdessen vorbei, aber meine Leidenschaft für den Sport ist geblieben. Ich freue mich, nun auch die Tour, oder die „Hölle des Nordens“ aus einer anderen Perspektive kennen zu lernen. Es gibt eine Handvoll Rennen, die ich unbedingt auch aus Fan-Perspektive erleben will. Paris-Roubaix zählt auf jeden Fall dazu. Mit Kumpels und Bier.  

Marcel Kittels Hand nach Paris-Roubaix 2011


 

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Simon Geschke – Diamantenbeine in den Alpen
Fabian Wegmann – ein großartiger Tag mit schmerzvoller Erinnerung