Bora hnasgrohe

Mit Hochdruck wird bei den Teams am Plan für den Rest der Saison gearbeitet. Der neue Rennkalender liefert dafür die Arbeitsgrundlage. Der Herbst in vollgepackt mit Rennen, teilweise laufen vier World-Tour-Events parallel. Die Mannschaften müssen nun einen neuen Plan entwerfen, der es möglich macht, die ambitionierten Ziele erreichen zu können.
Mit welchen Fahrern hat man bei welchen Rennen die besten Chancen? Wie verteilt man die Kapitäne auf die Rundfahrten? Wie kann man beim komprimierten Rennplan ein intelligentes Training aufsetzen um die Kapitäne in Top-Form an den Start zu bringen? Die Fragestellungen sind vielfältig, die Lösungsfindung komplex.


So entsteht normalerweise ein Saisonplan

„Wir starten mit den Überlegungen noch einmal ganz von vorn“, erklärt Enrico Poitschke. Er ist Chef-Sportlicher-Leiter bei Bora-hansgrohe und für den ersten Vorschlag für den Saisonplan zuständig, so ist es auch beim neuen Plan für die spezielle Saison 2020. In Poitschkes Plan fließen nicht nur die kurzfristigen Ziele ein, sondern auch langfristige Überlegungen. Welcher Fahrer soll sich in welche Richtung entwickeln, was wären die besten Rennen für den nächsten Schritt? Diese und andere Fragen werden bedacht. Anschließend wird der Plan dann mit dem Trainerteam abgestimmt und daran gefeilt. In Corona-Zeiten ist dies sehr speziell.
„So etwas haben wir noch nie gehabt, das ist eine Ausnahmesituation“, sagt Poitschke. „Wir müssen teilweise viergleisig planen, das ist dann natürlich auch organisatorisch eine Herausforderung“. Es wird von Grund auf neu angesetzt. Auch die langfristigen Zielstellungen werden überdacht. Kompromisse sind gefragt. „Klar, nicht jeder kann sein Wunschprogramm bekommen. Das ist nicht schön, aber wir müssen das beste daraus machen“, erklärt Poitschke.

Alle wollen zur Tour

Die Tour de France dürfte in Corona-Zeiten noch mehr an Stellenwert gewinnen. Es ist 2020 das größte Sportereignis der Welt – wenn es denn stattfindet. Ohnehin wollen fast alle Profis einen Startplatz für die Tour, in diesem Jahr ist es zudem so, dass die Tour sich mit nahezu allen anderen großen Rennen gut verbinden ließe. Anders als Giro, oder Vuelta, die im neuen Kalender mit den Klassiker kollidieren.
„Klar, wollen alle zur Tour, auch wegen der Möglichkeit der Kombination mit den anderen großen Rennen. Das macht es unheimlich schwierig“, sagt Poitschke. Es muss mit Weitsicht das richtige Team aufgestellt, möglicherweise frühere Absprachen angepasst und viele Gespräche geführt werden.
Zunächst werden für die Grand Tours die Kapitäne festgelegt, dann die Helfer ausgewählt. Nach und nach soll so der Plan entstehen. Dabei geht es nicht nur um die World-Tour-Events, sondern auch um andere Rennen, bei denen es auch Startzusagen gibt.

Die Pfeiler bleiben

Auch wenn von Grund auf neu gedacht wird, bleibt ein Teil des Plans bestehen. „Dass beispielsweise Emu (Emanuel Buchmann) unser Kapitän für die Tour bleiben wird, liegt nahe“, sagt Poitschke, der sich sonst wenig in die Karten schauen lassen will. Auch für den Giro d’Italia wird es wohl dabei bleiben, dass Rafal Maijka und Patrick Konrad als Kapitäne geplant sind. Bei den Pflaster-Klassikern setzt man auf Peter Sagan und in den Ardennen hat man mit Maximilian Schachmann einen Top-Fahrer. 
Doch die Probleme liegen ohnehin weniger bei den Top-Fahrern, sondern eher bei den Talenten und Helfern. „Ich mache mir eher Sorgen um Fahrer, die am Ende der Saison auf kaum Renntage kommen“, sagt Trainer Helmut Dollinger. Für ihn und die anderen Trainer im Team geht es dann darum, mit den Sportlern den besten Weg zu finden, mit dem neuen Plan umzugehen. Denn sobald der Plan steht, wird spezifisch gearbeitet.
„Natürlich liegt es auch an uns Trainern, die neue Planung im Sinne des Athleten optimal zu nutzen und auch zu schauen, wo vielleicht neue Herausforderungen stecken, sollte ihr Rennplan bedeutend geändert werden“, sagt Dollinger. Große Sorgen um enttäuschte Kapitäne oder Edelhelfer mache er sich ohnehin nicht.

November im Mai

Die Fahrer haben die Corona-Krise zuletzt sehr unterschiedlich erlebt. Während Fahrer wie Maximilian Schachmann oder Emanuel Buchmann ganz normal auf der Straße trainieren konnten und vor allem die Rennen vermissen, konnten Peter Sagan und Jay McCarthy nur auf der Rolle trainieren. „Wenn ein Australier nicht rauskann, dann ist das sehr uncool“, sagte Trainier Dollinger über seinen Schützling McCarthy trocken, aber vielsagend. Auch wenn man nun individuell mit den Fahrern je nach bisherigem Training arbeiten muss, ist es aktuell kein Problem, dass der Plan noch nicht steht.
„Es ist noch viel Zeit. Wenn wir schauen, wann es losgehen soll, dann liegen wir aktuell ungefähr dort, wo wir vor einer normalen Saison im November sind. Da würde ich bei einem Fahrer der für die Tour geplant ist nichts anderes trainieren, als für den Giro-Starter. Der Unterscheid ist aber, dass die Fahrer alle aktuell viel fitter sind und nicht kaputt von einer langen Saison“, erklärt Dollinger.
Man muss gezielt Pausen setzen, darf sich nicht vom Blick in den Kalender leiten lassen, sondern an dem neuen, eigenen Fahrplan orientieren. „Es ist schon so, dass wir eine klassische Trainingsstruktur haben. Man trainiert die Fettverbrennung und arbeitet an der VO2max, aber es ist noch viel Zeit, dass wir aktuell noch keine übermäßigen Schwellensachen machen“, erklärt Dollinger. Ohne die Rennen haben die Fahrer für das Training ganz andere Kapazitäten.

Nur ein Block

Schaut man auf den kompakten Rennkalender für den Herbst 2020 wird klar: Es gibt nur einen Rennblock. Das bedeutet, dass die Fahrer nicht wie sonst beispielsweise einen ersten Peak auf den Klassikern setzen können und dann den zweiten Form-Höhepunkt bei Tour oder Vuelta planen. „Das ist aber eigentlich kein großes Problem“, erklärt Dollinger. „Denn dabei geht es eh vorrangig um die Kapitäne. Bei den Helfern spielt es nicht die große Rolle, ob sie vielleicht nur 98 % bei einem Rennen haben und dann eben 300 Meter eher am Schlussanstieg ausscheren müssen“, so Dollinger. Es gehe vor allem darum, dass alle top fit sind, wenn es wieder losgeht. Bei den Kapitänen wird dann nach dem neuen Einsatzplan genauer gearbeitet und entsprechend ein Konzept für den Form-Peak erstellt.

Rennen sind wichtig

Für die Klassikerspezialisten wird es wichtig sein, Rennkilometer zu sammeln, wenn es losgeht. „Die Kopfsteinpflaster-Spezialisten brauchen einfach die Belastung, beispielsweise aus der Tour. Das bekommen sie mit Training nicht hin“, sagt Dollinger. Auch das würde dafür sprechen, am Plan festzuhalten, Peter Sagan mit zur Tour zu nehmen. Auch diese Sachen fließen in die Überlegungen mit ein und werden zwischen Trainern und den Sport-Verantwortlichen besprochen. Je mehr Überlegungen einfließen, desto schwieriger wird es, den optimalen Plan zu finden.
Möglicherweise kommt auch ein Fahrer wie Pascal Ackermann mehr in den Genuss flämischer Klassiker, als ursprünglich für das Jahr 2020 geplant. Doch das wäre nur dann möglich, wenn er nicht beim Giro startet, was eigentlich angedacht ist. Es wäre für den Ciclamino-Sieger von 2019 sicher schmerzhaft, auf den Giro zu verzichten, würde aber andere Optionen öffnen. Denn der geplante Doppelstart bei Giro und Vuelta ist mit dem neuen Kalender vom Tisch. So wäre aber eine Kombination aus einigen Klassikern und der Vuelta möglich. 

Höhentrainingslager

Ein wichtiger Punkt in der Vorbereitung der Klassementfahrer auf den vollgepackten Spätsommer sollen Höhentrainingslager-Ketten sein. Mit dem Ötztal als Partner hätte das Team sicher gute Optionen um mit der gesamten Mannschaft zusammenzukommen. Anfang Juni wäre ein guter Zeitpunkt für ein erstes Trainingslager, bis dahin soll auch der neue Rennplan stehen. Dann werden die Gespräche mit den Fahrern geführt und der Plan für die spezielle Saison 2020 bis ins Detail festgezurrt.