„Ich war im Januar 2017 so gut wie nie zuvor, was meine Leistungswerte betraf. Dann plötzlich dieses Problem, wenn ich richtig in die Belastung ging“. Zunächst war die Hoffnung da, dass es nur eine kurzfristige Reaktion war, auf eine Dysbalance, oder Ähnliches. Er fuhr die Mallorca Challenge im Februar, das Profi-Rennen (!) zu Ende. „Mit Standgas, ich konnte gar nicht tiefgehen. Aber danach bin ich nach Hause geflogen, denn so war ich nicht konkurrenzfähig„.
Es begann eine Odyssee von Arzt zu Arzt, von Physiotherapeut zu Physiotherapeut. „Man findet bei jedem etwas, ob Dysbalance am Rücken, oder sonstwas. Aber das eigentliche Problem fand zunächst niemand. Doch dann bekam ich den Tipp, mich bei Hansi Friedl vorzustellen. Der hat mir dann nach 30 Minuten gesagt, dass ich nach Holland in die Spezialklinik fahren soll, er vermutet eine Knick-Arterie im Bein“, so Tschernoster.

Friedel lag richtig. Tschernoster folgte dem Ratschlag und betont heute noch, wie dankbar er Friedel ist. „Es gibt wenige Menschen, von denen ich so eine hohe Meinung habe, wie von Hansi. Es interessiert ihn nicht, ob da Weltmeister Tony Martin, oder ein Jan Tschernoster auf der Liege liegt, er versucht einfach zu helfen“, so Tschernoster.
Komplizierte OP an der Arterie
Er musste sich entscheiden – entweder aufhören, oder das Risiko der Operation in Kauf nehmen. „Das war keine Blinddarm-Op, sondern ein komplizierter Eingriff, der mehr als drei Stunden dauerte und nicht ohne Risiko war. Aber ich entschied mich bewusst dafür. Ich wollte später nicht mit einem ‚was wäre gewesen, wenn ich die OP doch gemacht hätte‘ leben müssen, denn damit wäre ich sicher nicht klargekommen“.
„Bis zur OP im August habe ich weiter trainiert, bin in dem Jahr auf 20.000 km gekommen und war sogar im Höhentrainingslager in Livigno. Ich war top-motiviert und hab die Zeit genutzt, an meiner Schwäche, der kurzen intensiven Belastung zu arbeiten. Locker und alles bis 30 Sekunden ging irgendwie, sonst waren größere Intensitäten leider nicht machbar“, erzählt Tschernoster.
Harte Reha-Realität
Die OP verlief gut und das Problem war behoben. Die Reha stellte sich allerdings als mental anspruchsvoll heraus. „Drei Wochen nur Sofa. Danach Spazierengehen mit der Pulsuhr – mehr als 100 Schläge in der Minute sollten es nicht sein, damit die operierte Arterie keinen Schaden nimmt“.
Pünktlich zum Beginn der Saisonvorbereitung im Winter konnte er wieder voll trainieren. „Das dritte U23-Jahr hatte ich verpasst, aber ich war top-motiviert und wollte in meinem letzte U23-Jahr zeigen, dass ich es verdiene, Profi zu werden“.
Der alte Jan – Befreiungsschlag
Die fehlende Rennbelastung machte sich bemerkbar, aber das Bein war ok und die Form kam zurück. „Ich war hochoptimistisch, das Bein fühlte sich gut an und ich war sicher sogar etwas zu heiß, damals“, sagt Tschernoster rückblickend. „Es war kein neues Bein, sodass ich mich jetzt nicht mehr anstrengen müsste, aber ich hatte das Gefühl: Ich bin zurück in der Spur“.
Das erste Rennen war in Nordfrankreich – 3 Grad, Regen. So gar nix für die 60-Kg-Jungs mit 4% Körperfett. „Ich habe richtig einstecken müssen. Aber als es wärmer wurde, wurde es auch bei den Rennen besser“. Im Mai war der alte Jan zurück.
Bei der Erzgebirgsrundfahrt, einem schweren Bundesligarennen, wurde Jan Tschernoster Zweiter hinter seinem Ex-Teamkollegen Mario Voigt. „Das war ein Befreiungsschlag. Ich hatte schon etwas gezweifelt, weil es nicht mit einem BÄM zurück war, aber dieses Rennen gab mir Auftrieb.“
Rückschlag Nummer zwei – Beckenbruch
Nach der Erzgebirgsrundfahrt ging es direkt weiter zu einem Nations-Cup-Rennen – dem Course de la Paix. Es sollte ein absolutes Highlight werden und er reiste mit guter Form und einer großen Portion Selbstvertrauen nach Tschechien.
„Auf der letzten Etappe, der Königsetappe, hat es mich dann hingehauen. Beckenbruch – genauer gesagt Beckenringfraktur. Einfach in einer Rechtskurve hingeklatscht, zack, Rennen vorbei. Als unser Sportlicher Leiter Ralf Grabsch zu mir kam, habe ich ihn noch vorbei gewunken. Doch als ich aufstehen wollte, ging das plötzlich nicht. Der Sani hat mich ins Krankenhaus gebracht. Weil ich als Bundeswehrsoldat keine Versicherungskarte hatte, musste ich das Röntgen cash bezahlen. Gesehen hatte man dort allerdings nichts, und meine 7 €, die ich ausgelegt hatte, habe ich später auch wiederbekommen.“ Die Etappe gewann damals Tadej Pogacar und holte sich auch den Gesamtsieg.
Erst in Deutschland wurde bei Jan Tschernoster die Becken-Fraktur festgestellt. „Es war nichts verschoben, aber unglücklicherweise ging der Riss bis in die Becken-Pfanne. Das bedeutete, dass absolut keine Belastung auf das Bein durfte, sonst hätten schwere Schäden gedroht, wenn sich doch noch etwas verschoben hätte“.
Unerträglich
„Ich hatte immer gesagt, ich versuche in den vier Jahren U23 alles, um Profi zu werden. Sollte das nicht reichen, lasse ich es und widme mich meinem Studium, dass bis dahin nur als Ausgleich diente“, so Tschernoster. Doch nach dem verpassten dritten U23-Jahr war nur die Saison 2018 geblieben, die er nun größtenteils wegen des Beckenbruchs verpassen würde. „Im Nachhinein muss ich schon sagen, dass meine Eltern da ganz schön viel ertragen mussten. An normalen Tagen ging es, aber wenn Zeitfahrmeisterschaft war, oder ein anderen großes Rennen, das ich verpasste, war ich kaum zu ertragen„, sagt Tschernoster ruhig und reflektiert.
Er hat nach außen nie rumgejammert, wollte nicht das Mitleid einsammeln. Er wollte Radprofi werden und setzte alles daran.
„Es war wieder ein heftiger Rückschlag, aber wenn ich jetzt aufhöre, kann ich das nicht vor mir rechtfertigen. Noch mehr als jemals zuvor wollte ich unbedingt wieder so schnell Radfahren wie 2016. Und ich war fest davon überzeugt, dass ich es noch viel schneller fahren kann, als damals.“
Tschernoster optimiert mit seinem Trainer Robert Pawlowsky alles – Schlaf, Taktik, Ernährung. „Wenn ich zurückdenke, wie viele Körner ich 2016 verschwendet hatte. Allein mit der Cleverness von heute und der Form von damals, wäre es noch viel erfolgreicher gewesen“.
Zum Wiedereinstieg fuhr Tschernoster in Belgien Pro-Kermesse und startete dann beim Bundeligarennen in Sebnitz. „Ich hatte mich im Training enorm gequält und sogar noch die Hoffnungen auf einen WM-Startplatz. Sogar auf die Deutschland Tour hatte ich ein wenig geschielt. Aber daraus wurde nix“. Für die WM wurde er nicht berücksichtig. „Wo ich Ralf Grabsch aber keinen Vorwurf machen kann. Es wäre schon schwer zu rechtfertigen gewesen“, sagt Tschernoster, der dennoch enttäuscht war, weil es auf dem Kurs in Innsbruck für ihn eine gute Chance gewesen wäre, der Welt zu zeigen, dass er auf dem Weg zurück an die Weltspitze ist. Das hätte auch seinem Agenten Christian Baumer bei den Gesprächen mit potenziellen Profiteams sehr geholfen.
Bonus-Jahr
Tschernoster brach mit seiner Regel, nach vier Jahren U23 aufzuhören, sollte es nicht zum Profi geklappt haben. Er wollte es nach zwei Katastrophen-Jahren und so unglaublich viel Aufwand in der Reha noch einmal versuchen.
„Ich wollte es mir selbst zeigen: ‚Ok, Jan, irgendwie kannst du es doch noch, du kannst schnell Rad fahren‘. Ich hatte es mir vorgenommen, es so locker anzugehen, es nur mir beweisen zu wollen. Aber wirklich umsetzen konnte ich es nicht. Ich hatte immer noch daran geglaubt, dass ich es schaffen könnte, Profi zu werden“. Nach zwei Jahren Totalausfall war die Motivation größer denn je.
„Ich habe voll durchgezogen, nie mehr als 63 kg gewogen, das Leben voll danach ausgerichtet. Das war immer mein Anspruch. Ich habe es als meinen Job angesehen. Die Bundeswehr hat mich dafür bezahlt, Rad zu fahren. Ich war kein richtiger Profi, aber es war mein Beruf. So habe ich das gelebt, auch in den Phasen ohne Rennen“. Die Leistungsdaten waren super und die Motivation hoch.
Besessen
„Bis zum ersten Rennen 2019 hatte ich wirklich eine ideale Vorbereitung. Robert hat mich da richtig gut betreut und vorbereitet. In allen Bereichen hatten wir 100% ausgeschöpft“, so Tschernoster. Er war extrem ehrgeizig, vielleicht sogar besessen. Die Lockerheit fehlte, sagt er heute. Er war ein Megatalent und hatte dann zwei Jahre Mega-Pech. Er wollte es mit der Brechstange.
Kein Parmesan auf die Nudeln nach dem Training um Milchprodukte zu meiden, keine Kaffeestopps. „Es war mein Prinzip – ich mache nicht 100%, ich mache mir 110%. Das war sicher übertrieben“, sagt Tschernoster heute ruhig. Er sei ein Pedant, auch in anderen Lebenslagen. Für sein hartes Traningsprogramm für das Comeback war das nützlich, aber insgesamt etwas drüber. Man glaubt es ihm sofort.
Mentale Wirkungstreffer
Die Saison 2019 beginnt gut. Er ist nicht nur fit, er spürt beim Saisonauftakt in Kroatien, dass er ganz vorn mitfahren kann. Vor der entscheidenden Etappe, ein schweres Teilstück mit Bergankunft, will er den Lohn der Arbeit einfahren. In der Besprechung vor dem Rennen forderte er die Teamunterstützung ein – für einen ruhigen Typen wie ihn etwas Besonderes. Sein Trainer hatte ihn ermutigt, selbstbewusst aufzutreten, denn das entsprach seinem Leistungsvermögen. Tschernoster war eher der Fahrer-Typ „zu lieb“.
Die Etappe lief dann perfekt für ihn. Er verfügte über eine sehr gute Sauerstoffaufnahme-Kapazität, konnte lange mit hoher Intensität fahren und dabei gut im Fettstoffwechsel bleiben. War es vom Start weg ein schweres Rennen – lag ihm das sehr. Genau so lief es.
Tschernoster kann mehr als ein Jahr später noch ganz genau beschreiben, wie er in der kleinen Spitzengruppe auf die letzten sechs Kilometer ging. Die Favoriten waren zusammen und er fühlte sich herausragend.
„Es war den ganzen Tag richtig Radrennen und ich wurde super unterstützt. Nach dem vorletzten Berg waren wir noch 30 Mann und es ging Richtung Schlussanstieg. Ich kannte den Anstieg, hatte ihn mir extra vorher angeschaut. Am Abend zuvor dann noch bei Google Maps die Kurve markiert, bei der ich antreten wollte.
Im Rennen war ich gut positioniert. Eine Rechtskurve, dann 500 m flach im Ort, dann beginnt der Anstieg. Ich war an Position sechs, dann als Dritter um die Kurve in den Ort. Dort war ein Kreisverkehr und dahinter eine Baustelle. Nichts wildes, aber 30m Schotter. Einfach durchfahren, mehr nicht. Wir waren 30 Mann, einer hatte einen Platten. Ich. Den halben Berg bin ich mit Platten gefahren, dann gewechselt und Vollgas bis ins Ziel, obwohl ich längst abgeschlagen war. Ich weiß nicht, wo ich an diesem Tag angekommen wäre. Aber dieses Erlebnis hat mir einen Knacks versetzt. Ich habe zum ersten Mal gedacht: Was soll das alles hier?„.
Weitermachen
Tschernoster fing sich und machte weiter, mit den üblichen 110%. Bei einem schweren Rennen im Jura gab es den nächsten Rückschlag. Er fuhr bei einer schweren Bergetappe mit den Besten mit. Doch auf einem Plateau begann es zu schneien. Er hatte keine Jacke, der Pfleger an der Verpflegung auch keine Klamotten. „Ich bin mit der Spitze in die Abfahrt und dann einfach erfroren. Das war eine unheimliche Schwäche von mir – ich war nicht kälteresistent. Sowas darf nicht passieren. Es kann nicht sein, dass man bei Kälte und Nässe nicht Radfahren kann. Aber so war es da bei mir“. Das Feld zog vorbei und er war um jeden Meter froh, den es bergauf ging.
„Ich hab Erinnerungslücken. Der Physio hat mich irgendwie gerettet – in eine warme Dusche gelegt. Es war nur ein Rennen, bei dem das Wetter und das Problem mit den Klamotten mir einen Strich durch die Rechnung machten. Aber dieses Erlebnis hat mir dann einen richtigen Moralschaden versetzt“.
Rückschlag Nummer drei – Auf dem Radweg aufgeschlitzt
Nach dem Rennen im Jura wollte Tschernoster eine kurze Auszeit nehmen. Nicht weiter 110% durchballern, sondern mal etwas Abstand gewinnen, einfach etwas Spaß auf dem Rad haben. Er packte seine Sachen in einen Rücksack, setzte sich auf sein Rennrad und machte sich auf eine mehrtägige Tour zu Kumpels in den Süden. Es war der 1. Mai und er wollte südlich von Frankfurt übernachten. Sein alter Kumpel Pascal Ackermann, mit dem er schon 2016 bei der l’Avenier glänzte, hatte am frühen Nachmittag den Radklassiker in der Frankfurter Innenstadt gewonnen. Am Abend rollte Tschernoster durch die Stadt.
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