„Ich war auf dem Radweg, mit Klingel, Rücksack, ganz gediegen. Es war so 17-18 Uhr und ein älteres Ehepaar mit Trekkingrädern kam mir entgegen. Der Mann vorn, die Frau 15 Meter dahinter. Sie waren super langsam und so 200 m von einem Ausflugslokal weg, wohl gerade losgefahren. Der Mann fuhr vorbei, aber die Frau zog plötzlich 5 m vor mir nach links – voll in mich rein. Ich habe versucht mich in die Wiese wegzudrücken, bin aber mit dem Unterarm irgendwo bei ihr hängegeblieben. Der Unterarm war komplett aufgeschlitzt. Die Ärzte mussten nicht röntgen, um zu sagen, dass der Knochen heil ist. Alles war zerrissen im Unterarm, es hat geblutet wie sau“.
Er wurde operiert und man sagte ihm gleich, dass es sein kann, dass Nerven beschädigt sind. „Ich hatte großes Glück in einem sehr guten Krankenhaus gewesen zu sein. Sie haben den Nerv freigelegt und dann alles gut zusammengebastelt. Ich hatte wirklich Glück.“
Doch ganz ohne Probleme blieb es nicht. Tschernoster hatte hinterher Probleme beim Öffnen der Hand. „Fallhand, sagt man dazu. Zupacken ging, ausstrecken ging nicht„. Es folgten sechs Wochen Reha im Sportmedizinisches Zentrum der Bundeswehr in Warendorf. Er wohnte in dieser Zeit in der Kaserne, im Bundeswehrkrankenhaus. „Es war wirklich sehr viel Arbeit, um die Hand halbwegs wieder benutzen können. Die Hoffnung war da, dass ich sie irgendwann wieder vollständig bewegen kann, aber eine Garantie gibt es keine. Mittlerweile bin ich bei 98% – Gitarre spielen könnte ich heute nicht, aber hätte man mir damals gesagt, dass es mal so wird, hätte ich sofort unterschrieben.“
Der Traum ist aus – Befreiung!
Der kaputte Arm besiegelte das Ende des Versuchs, doch noch Profi zu werden. „Es war der Moment, als ich nach der OP aufgewacht bin und so langsam zu mir kam. Ich hatte Klarheit – ich werde kein Profi mehr. Die Sache war gelaufen.“
Doch Tschernoster wollte weiter Rad fahren, möglichst schnell und auch sein letztes Jahr durchziehen. Aus Spaß, befreit vom selbstauferlegten Druck. Er kämpfte sich durch eine lange Reha zurück und war wieder bereit, Rennen zu fahren. „Etwa 6-7 Wochen nach der OP bin ich bei einem Rennen gestartet – die Zeitfahrmeisterschaft in NRW gefahren. Da habe ich meinen allerersten Landesmeister NRW-Titel geholt.“ Man könnte diese Aussage als zynisch empfinden, aber Tschernoster sagt es ruhig und nicht ohne Stolz.
Nie wieder Unterlenker
Die Leistungswerte waren gut, schließlich war die Vorbereitung auf die Saison extrem gut verlaufen. Tschernoster hatte Bock und ordentliche Form, jedoch war er gehandicapt. „Ich konnte gut zupacken, aber die Hand nur schwer öffnen. Deshalb bin ich nie mehr Unterlenker gefahren, denn ich hätte nicht sehr schnell die Bremse greifen können“, erzählt Tschernoster.

Er war Ersatzfahrer für das Olympia-Testrennen in Tokio und tatsächlich fiel ein Starter aus. Er durfte mit nach Japan. „Das war eines meiner der besten Rennen. Ich war im Kopf nun frei, habe daheim abends mal Bier getrunken, entspannt mit Kumpels trainiert, statt meinen Plan 110% zu erfüllen. Ich war immer noch sehr professionell, aber jetzt einfach mit einer gewissen Lockerheit. So bin ich die besten Rennen seit 2016 gefahren. Tokio war mega“.
Nico Denz, mit dem er schon bei der Tour de l’Avenir gemeinsam im BDR-Team gefahren war, war in Tokio auch dabei. Dass Jan nicht mehr Unterlenker greifen konnte, wusste er nicht. Er hat es erst durch diesen Artikel erfahren. „Jan wollte nie, dass sowas die große Runde macht. Das war schon immer so. Ich wusste beispielsweise auch früh von der Knick-Arterie, aber er bat mich damals, dass ich nicht darüber rede“, sagt Denz.
Tschernoster wurde auf dem brutalen Kurs 17. Vier Plätze hinter dem heutigen CCC-WorldTour-Profi Georg Zimmermann. „Dass mit dem ‚immer Oberlenker‘ war kein Problem für mich, sprinten konnte ich ja eh noch nie“, scherzt Tschernoster.
Nicht abgezockt genug – Zweiter im Sauerland
Tschernoster hatte nun einfach Spaß auf dem Rad. Das große letzte Highlight auf der Abschiedstour sollte die Sauerland-Rundfahrt sein. Am Start war er total locker und wollte den Tag einfach genießen. Das Rennen wurde richtig hart ausgefahren, weil Jonas Rutsch noch um den Gesamtsieg kämpfte. Der heutige EF-Neo-Profi ging früh in die Offensive und Tschernoster mit. Die kleine Ausreißergruppe wurde immer kleiner und es war stets Zug drauf – wie es Tschernoster mag.
„Ich hab ihn nicht losbekommen, hab mich dann abkochen lassen. Trotzdem war es eine Bestätigung“, sagt Tschernoster. Er ist voll mitgefahren, mit Ruscht, obwohl er hätte pokern können. Rutsch wollte den Gesamtsieg der Bundesliga, Tschernoster hätte gern den Tagessieg gehabt. Er hätte Rutsch vor die Wahl stellen können – entweder Tschernoster am Ende den Sieg überlassen, oder allein von vorn schrauben. Er tat es nicht. Rutsch, der deutlich explosivere, hängte Tschernoster im kurzen Schlussanstieg ab und holte sich den Sieg. Tschernoster wurde Zweiter.
Sein endgültig letztes Radrennen war der Münsterland Giro. Nicht sein Terrain, aber es sollte ein schöner Abschluss werden. Eigentlich. Leider war das Wetter und das vom Wind geprägte Rennen alles andere als ein lockeres Ausrollen. „Ich wollte bei meinem letzten Rennen nicht DNF stehen haben. Ich habe voll durchgezogen, mir richtig die Kante gegeben, bis zum Rundkurs in Münster – dann habe ich meine Runden gedreht. Das war schon emotional, da ins Ziel zu fahren.“ Das halbe Feld erreichte nicht das Ziel. Nur eine handvoll KT-Fahrer stehen in der Ergebnisliste – Tschernoster ist einer von ihnen.
Keine Tragödie, aber ein Verlust für den Radsport
„Ich habe diese Geschichte das erste Mal komplett erzählt, und es klingt schon krass. Ich hoffe, in dem Text liest es sich nicht wie eine Tragödie“, sagte Tschernoster am Ende des Gesprächs mit einem Lachen. Seine Geschichte ist wahrlich keine Tragödie. Er ist ein sehr reflektierter und intelligenter junger Mann. Er hat viel geopfert, für sein großes Ziel, das er nicht erreicht hat. Er sucht keinen Schuldigen, ist nicht verbittert, sondern spricht über seine Schwächen, reflektiert die Besessenheit kritisch und ist dankbar, für eine großartige Zeit.

„Ich würde es wahrscheinlich genauso wieder machen“, sagt er ruhig aber bestimmt. Als Mensch hat er ganz sicher extrem viel gelernt und mit 23-Lebensjahren so viel mehr als eine Achterbahnfahrt erlebt. Fast beiläufig sagt einen Satz, in dem so viel steckt, was man jungen Sportlern an der Grenze zur Besessenheit mitgeben möchte: „Man muss auch mit 90% noch Profi werden können. Es muss doch die Chance geben, sich zu steigern.“
Mit Erkenntnissen wirft er nicht um sich, seine Sätze sind wohl überlegt. Man nimmt ihm ab, dass er nie Mitleid wollte, oder irgendwem die Schuld geben. Er verheimlicht nicht, dass er bei all den Rückschlägen auch Momente mentaler Schwierigkeiten hatte, aber trägt sie nicht nach außen.
„Ich habe seine Rückschläge verfolgt und war immer wieder geschockt“, sagte Pascal Ackermann. „Es ist echt traurig, dass er so viel Pech hatte, denn ich denke, dass er einer von den talentiertesten war und definitiv ins Profi-Peloton gehört hätte“, so Ackermann.
Der Spaß am Radsport wurde Jan Tschernoster nicht genommen, denn er sitzt weiter viel auf dem Rad, macht Bikepacking-Touren und genießt die Bewegung. Vor dem Frühstück ein 5km-Lauf, Touren mit Freunden, nun auch Kaffeestopps, Kuchen und Bier.
Aber dem deutschen Radsport wurde ein sehr großes Talent genommen, weil es einfach nicht sein sollte. „Da ist leider so viel schiefgelaufen, dass einfach immer irgendeine Barrikade im Weg stand und wenn er sie weggeräumt hatte, kam die nächste. Das tut mir sehr leid für ihn, denn vom Fahrerischen her, wäre da definitiv mehr drin gewesen. In Sachen Training und Motivation hat er wirklich alles dafür gegeben. Es hat einfach das letzte bisschen Glück gefehlt“, so Ackermann.
Ein Aufruf an alle Talente
Die Geschichte vom großen Talent im Pech gibt es in jeder Generation, in jeder Nation. Peter Lenderink beispielsweise, der Tschernoster damals bei der Junioren-Rundfahrt der Driedaagse van Axel knapp geschlagen hatte, musste seine Karriere auch früh beenden – wegen einer Knick-Arterie.
Während Jan Tschernoster seine lange Geschichte erzählte, benutzte er das Wort „Pech“ nur ein einziges Mal: „Wer gut ist, der braucht kein Glück. Aber es ist nicht zuträglich, wenn man immer Pech hat.“ Er sagte diesen Satz ganz leise, als könnte er ihn dadurch abschwächen. Aber diese Worte fassen seine Geschichte sehr gut zusammen – sie wirken aus seinem Mund wie der Aufruf an alle ambitionierten Talente, nichts als selbstverständlich zu betrachten.