Degenkolb


Eigentlich wollen alle nur eins – Radrennen! Die Fahrer sind heiß wie Zickenmist, die Fans wollen „ihre Jungs“ ballern sehen und Team-Manager und Journalisten ihren Job machen, den sie so lieben. Aber Corona. Klar.

So einfach, wie die Welt damals, ohne Corona, mit dem Blick zurück heute erscheint, so kompliziert ist sie heute. Die Radteams stehen vor schwierigen Fragen und Entscheidungen. Denn das Thema Corona ist nicht schwarz/weiß.

Die Schutz-Vorgaben der UCI (Blasen bilden und Co) erfüllen die Teams bereitwillig und problemlos, so zumindest der Eindruck nach vielen Gesprächen. Einige Mannschaften gehen in Sachen Prävention deutlich weiter: Blasen bilden, Testen, kein Ausgang im Trainingslager, kein Supermarkt-Besuch während des Höhen-Camps, … . Logisch, mag man denken, schließlich wollen alle Mannschaften um jeden Preis einen Corona-Fall vermeiden. Doch das Thema ist weit komplizierter.

(Problem)-Rennen

Wie genau die Teams den Infektionsschutz auch nehmen, es bleibt ein Risiko. Geht das Kind eines Fahrers in die Kita? Oder arbeitet die Freundin eines Masseurs im Supermarkt? Will man das Personal eines WorldTour-Teams nicht komplett isolieren, bleibt ein Restrisiko. Logisch. Aber dieses gilt es eben für die Mannschaften abzuwägen. Wie weit kann man gehen? Wie lange kann man Sportler und Staff „isolieren“? Testen, Regeln, Vorsicht – überall. Welches Risiko ist noch ok, was nicht?

Das betrifft vor allem die Rennen. Ein gutes Beispiel für die komplexe Problematik sind die Diskussionen um die nationalen Meisterschaften in den Niederlanden. Alle World-Teams werden die Fahrer testen, bevor sie zu einem großen Rennen reisen – so ist es in der UCI-Handreichung verankert. Aber was ist mit den Fahrern aus den niedrigeren Klassen? Könnte man als World-Team verlangen, dass wirklich alle Starter einen negativen Test vorweisen müssen, selbst wenn es die Regeln der Behörden für das Rennen nicht vorschreiben? Genau das ist in den Niederlanden grad in der Diskussion. Reicht da ein Test, oder brauchen wir bei der aktuellen Qualität der Tests sogar mehrere? Was ist, wenn der Test bei solch Rennen keine Startbedingung ist – sollte das Team dann den Fahrer nach einer nationalen Meisterschaft zurück in die Tour-Kader-Blase lassen? Oder ist das unfair gegenüber den anderen Fahrern in der Blase, die dann ebenfalls einem Risiko ausgesetzt sind? Was ist die Schwelle an Schutzmaßnahmen, die nicht unterschritten werden dürfen, damit man als World-Team den Start absagt?


Podcast | UCI Medical Commission Member Matthias Baumann über das UCI Corona-Konzept


Das gilt natürlich nicht nur für nationale Meisterschaften, sondern auch für andere Rennen. Bei einem Test-Preis von schnell 160€ je Test, werden sich das kleine Teams ohnehin nicht für viele Rennen leisten können. Dürfen die also nicht starten, wenn sie sich die Tests nicht leisten können? Wird so Geld zum Kriterium für die Zulassung zu einem Rennen? Ist das fair?

Was passiert, wenn man für Rennen keinen Test vorweisen muss? Soll ein World-Tour-Fahrer, der sonst vor jedem Rennen einen Test vorlegen muss, dann wirklich starten? Macht das dann alles noch Sinn? Schwierig.

Worst-Case-Denken

Es gilt für die Teams zu bedenken, was wäre, wenn dann einer der Teilnehmer positiv getestet wird, oder Kontakt hatte, zu einem positiv getesteten Menschen. Was wäre, würde eine World-Tour-Mannschaft den Top-Sprinter zur nationalen Meisterschaft schicken, bei der ohne Test ein Fahrer im Peloton dabei war, bei dem ein direkter Kontakt zu einer positiv getesteten Person vor dem Rennen stattfand, aber erst nach dem Rennen nachgewiesen wurde? Was ist, wenn dann die zuständige Behörde eine 14-tägige Quarantäne verhängt, sechs Tage vor dem Tour-Start?

Allen ist klar, das schlimmste wäre, würde die Tour wegen eines positiven Falles ausfallen, oder abgebrochen werden. Deshalb werden Veranstalter, Teams und Co. alles daran setzen, für maximale Corona-Sicherheit zu sorgen. Im Rahmen des Möglichen. Das Zweitschlimmste wäre, dass ein Fahrer nicht bei der Tour starten darf, weil er eine Quarantäne-Anordnung vorher auferlegt bekommt, aber eigentlich gesund ist.

Die Last der Verantwortung

Das Problem der Teams ist, dass sie auf der einen Seite den Aussagen der Behörden vertrauen müssen, aber andererseits das Risiko tragen. Sagt eine Behörde, dass man ein Rennen mit den gegebenen Auflagen und dem vorgelegten Konzept fahren kann, muss man darauf vertrauen können. Aber sollte etwas schiefgehen, trägt das Team die Verantwortung. Denn der Hauptsponsor wird nicht erfreut sein, wenn der Kapitän für die Tour de France leider wegen Quarantäne passen muss, weil ein Starter im Feld der nationalen Meisterschaft in Teilzeit in einer Schlachterei arbeitet, bei der es einen Ausbruch gab.

Ganz ungeachtet des Infektionsrisikos oder der möglichen Folgen einer Erkrankung ist das Thema komplex. Die Vorgaben der UCI sind nicht bindend, eher Richtlinien. Die Handhabung in den Ländern unterschiedlich, denn es ist die jeweilige behördliche Regelung des Landes bindend. Die Team-Chefs sind nicht zu beneiden, müssen sie doch Entscheidungen treffen, obwohl die Fakten- und Datenlange eher mäßig ist. Wo ist es sicher? Welcher Entscheidung kann ich vertrauen? Wo kann ich die Fahrer starten lassen? Wie groß ist die Gefahr bei einer kleinen Rundfahrt, dass die Fahrer dann dort festsitzen, wie bei der UAE-Tour im Frühjahr? Kann ich einen Tour-Starter in den zwei Wochen vor dem Grand Depart noch durch halb Europa schicken? Es geht eben nicht immer nur um das Risiko einer Ansteckung, sondern auch um die Folgen einer Quarantäne.

Eine Chance für den Sport

So schwierig wie die Situation ist, so düster die Aussichten, sollte es doch keine Tour de France geben können – dieser Austausch, das Miteinander, die Hilfsbereitschaft, die man aktuell im Radsport erlebt, ist beeindruckend.

Vielleicht ist das die positive Seite dieser Corona-Krise. Dass der Sport, der so zerklüftet und vielschichtig ist, ein Stück zusammenrückt. Nach vielen Gesprächen, mit Doktoren, Team-Managern, Fahrern, Sportlichen Leitern, Veranstaltern und Sponsoren bleibt diese Hoffnung. Denn nur gemeinsam kann man diese Krise bewältigen, auch wenn es eben doch zu dem „positiven“ Fall kommt, den jetzt jeder gern ausblendet.