Giro im Herbst, Lombardei-Rundfahrt im Sommer – die Radsport-Welt steht Kopf. Die Termine für die Rennen der Corona-Saison 2020 sind bunt durcheinandergewirbelt. Der Neo-Klassiker Strade Bianche und das Monument Mailand-Sanremo, das längste Eintagesrennen der Saison(!), werden in diesem Jahr nicht im März, sondern im Hochsommer ausgetragen. Statt Starkregen und einstelligen Temperaturen auf den schlammigen Schotterwegen der Toskana, oder gar Schneefall am Turchino-Pass, wird es aller Voraussicht staubig, trocken aber vor allem heiß.

30 Grad waren es am vergangenen Samstag, eine Woche vor dem Rennen in Siena, Start- und Zielort der Strade. 36 Grad werden für den Renntag in der Toskana vorhergesagt. Und nur eine ganz leichte Brise Wind.

Alles anders – Achtung, Überhitzung

Die Hitze kann bei den in den Hochsommer verlegten Frühjahrsklassikern eine große Rolle spielen, das weiß auch Dan Lorang, Head of Perfomance beim World-Tour-Team BORA-hansgrohe. Denn nicht jeder Rennfahrer kommt mit Hitze gleich gut zurecht. „Die wärmeren Temperaturen können Einfluss auf das Ergebnis haben. Es gibt einfach Fahrer, die temperaturfühliger sind und Hitze nicht so gut tolerieren können; die dann aber sehr gut bei kühlen oder kalten Bedingungen ihre Leistung voll abrufen können“, so Lorang.

Auch spielen Gewicht und Muskelmasse bei der Gefahr der Überhitzung eine nicht unwesentliche Rolle. Schwere und muskulösere Fahrer, bei denen das Verhältnis von Körperoberfläche und Masse geringer ist als bei leichten Athleten, können schneller überhitzen, da sie aufgrund der vermehrten Muskelarbeit mehr Wärme abgeben müssen.

Es reicht letztendlich schon der Anstieg der Körperkerntemperatur von nur 0,5 Grad aus, um die negativen Folgen zu spüren. Das Problem: Der Organismus benötigt zusätzliches Blutvolumen für die Körperkühlung über die Haut. Dies setzt eine physiologische Kettenreaktion in Gang, an deren Ende eine verminderte Leistung steht.

Nötige Kühlung als Kettenreaktion

 „Das Herz-Kreislauf-System hat bei der Hitze aufgrund der Kühlung deutlich mehr zu tun, als bei Kälte, da es noch zusätzlich auf die Kühlung reagiert. Dadurch werden letztendlich auch geringere Leistungswerte erzielt beziehungsweise die Abschnitte mit den hohen Wattwerten werden etwas weniger lang sein. Es wird spannend sein, zu sehen, wie sich das auswirkt“, so Lorang. Da die Headunits nicht nur Geschwindigkeit, Leistung und Trittfrequenz, sondern auch Außentemperatur aufzeichnen, können nach dem Rennen ein sommerliches Strade Bianche oder Mailand-Sanremo mit einem Frühjahrsrennen direkt verglichen werden.

Hitze als Gegner

Entgegenwirken lässt sich dem Performanceverlust mit Akklimatisation. So empfahl die UCI den Athleten für die Weltmeisterschaften 2016 in Doha eine frühere Anreise, am besten sieben bis zehn Tage vor dem ersten Wettkampf. Und sie schlug auch Hitzesimulationen wie Saunagänge und Training in Hitzekammern selbst vor. Einige Fahrer sollten, wäre es nach dem Willen ihrer Trainer gegangen, sogar heiße Wannenbäder nehmen, um sich auf die heißen Bedingungen einzustellen. Der spätere Weltmeister Peter Sagan reiste dagegen erst kurz vorher an, vermied den „Hitzestress“ und konnte so länger unter kühleren Temperaturen trainieren und regenerieren.

„Wir wissen zwar, dass Hitzeakklimatisation bis zu einem gewissen Grad möglich ist, aber es gibt trotzdem noch große Unterschiede beim Outcome. Das bedeutet: inwieweit ein Fahrer mit der nötigen Vorbereitung dann noch an die 100 Prozent seiner Leistungsfähigkeit herankommt. Es wird spannend sein, zu sehen, wie sich das auswirkt. Ich bin fast sicher, dass es hier die eine oder andere Überraschung geben wird“, so Lorang, Cheftrainer der deutschen WorldTour-Mannschaft weiter.

Aufgrund der sommerlichen Temperaturen verzichtet das Team Bora-hansgrohe vor den Rennen in Italien auf spezielle Akklimatisation. „Wir lassen die Fahr er jetzt einfach unter den derzeit herrschenden Bedingungen trainieren. Wir raten ihnen auch nicht, extra vormittags oder am Abend zu fahren. Sie sollen bewusst in der Hitze trainieren, um sich daran zu gewöhnen. Aufgrund des täglichen Trainings und der warmen Temperaturen fast überall ist keine Extra-Adaptation nötig“, so Lorang.

Hitze als Vorteil

Der Luxemburger Sportwissenschaftler sieht sogar momentan einen Nutzen in den wärmeren Temperaturen – allerdings nur während des Trainings. „Training bei extremer Hitze ist auch ein bisschen vergleichbar mit Training in der Höhe. Es ist ein zusätzlicher Reiz. Allerdings sollte das Training dann den Bedingungen angepasst und beispielsweise die zu erzielenden Leistungswerte nach unten korrigiert und die Fahrer dafür sensibilisiert werden, auf Flüssigkeits- und Natriumzufuhr zu achten.“

Direkt vor dem und im Rennen selbst werden Fahrer und Betreuer darauf achten, die Körperkerntemperatur so gut wie möglich stabil zu halten beziehungsweise herunterzukühlen. Das geschieht über den Aufenthalt in klimatisierten Räumen wie Hotelzimmern oder dem Bus. „Im Rennen selbst wird primär von außen mit Eis und kaltem Wasser gekühlt. Über die Abkühlung des Blutes soll so die Körperkerntemperatur gesenkt werden“, erklärt Lorang. Neben gekühlten Getränken sollen Eiswürfel, die in Nylonstrümpfe gefüllt in den Nacken gelegt werden oder unters Trikot gepackt werden, für Coolness sorgen.

Vom sogenanntem Slush-Eis, das einige Profi-Teams einsetzen, ist Lorang nicht voll und ganz überzeugt. In der Theorie funktioniert die Kühlung von innen natürlich, aber in der Praxis kann der Magen-Darm-Trakt damit überfordert sein. Auch die in Eiswasser getränkten Kühlwesten, die die Fahrer oft vor Rennstart beim Warmfahren auf der Rolle tragen, sind nicht jedermanns Sache. „Das Feedback der Fahrer ist, dass es nicht so angenehm ist, diese Westen zu tragen“, erklärt Lorang.

Stattdessen arbeitet das Performance Team von Bora-hansgrohe mit den Ausrüstern zusammen. „Wir versuchen natürlich auch mit unserem Bekleidungshersteller, Trikots zu entwickeln, bei denen die Textilien die Hitze besser abgeben beziehungsweise die Hitze erst gar nicht aufnehmen. Zudem beschäftigen wir uns gerade mit einer zusätzlichen Kühlung im Helm. Unsere Specialized-Helme verfügen bereits über eine sehr gute Belüftung, aber vielleicht gibt es noch die Möglichkeit, eine zusätzliche Kühlung zu integrieren“, so Lorang. In der Hitze des Gefechts cool zu bleiben – nicht nur psychologisch, sondern auch physiologisch –, wird wohl einer der wichtigsten Faktoren bei den hitzigen Frühjahrsklassikern in diesem Rennsommer sein.