Typisch „Loulou“ 

Julian Alaphilippe ist ein Instinkt-Rennfahrer und emotionaler Typ. Kühl und berechnend Radrennen fahren ist nicht so sein Ding – Motivation spielt beim Franzosen eine sehr große Rolle. Über Talent und fahrerische Qualität muss man bei „Loulou“ seit Jahren nicht mehr diskutieren – er hat bewiesen, dass er absolute Weltklasse ist.
Der Sonntagnachmittag in Imola war der absolute Alaphilippe-Klassiker. Mit der perfekten Attacke über die Kuppe des letzten Anstiegs stiefelte er, das Rad zwischen den Beinen windend und dabei fast voeckleresk* Grimassen scheidend, davon. Das Maximum auf Ästhetik-Skala für Puncheur-Attacken. Bergab macht ihm ohnehin niemand etwas vor und mit ausgebreiteten Armen rollte er schließlich über die Linie, um anschließend in den Armen der Betreuer und Teamkollegen vor Freude Rotz und Wasser zu heulen. Genau das ist Julian Alaphilippe. Der neue und verdiente Champion der Welt.
 
* Anspielung an die Grimassen seines Landsmanns & Nationalcoach Thomas Voeckler
 

Gute BDR-Teamleistung bei der WM 

Rang neun von Maximilian Schachmann ist am Ende nicht das Ergebnis, was man sich beim BDR erhofft hatte. Doch für mehr hat einfach ein klein wenig gefehlt. Dennoch sollte man positiv auf den Auftritt des Deutschen Teams bei dieser WM blicken. Die Frauen haben im Zeitfahren mit Lisa Brennauer nur knapp eine Medaille verpasst und ein starkes Straßenrennen abgeliefert, wo Liane Lippert mit Rang fünf ein Top-Ergebnis eingefahren hat. 
Auch beim Straßenrennen der Männer bleibt wenig zu kritisieren. Als Mannschaft ist man extrem fokussiert und stark gefahren. Alle im Team haben ihre Aufgaben erfüllt. Jonas Koch war in der Ausreißergruppe, Paul Martens, Nico Denz und Georg Zimmermann haben versucht die Kapitäne Simon Geschke und Maximilian Schachmann bis zum Schlussdrittel des Rennens gut zu unterstützen. Und John Degenkolb erfüllte seine Rolle als Edelhelfer für Schachmann bis zur vorletzten Runde nahezu perfekt. Dann übernahm Geschke die Rolle, Schachmann in Position zu bringen und wurde am Ende noch 17. Eine tolle Leistung der BDR-Jungs, die das gute Bild der Nationalmannschaft in Imola abrundeten.    
Aber schade natürlich, dass man nur mit sieben Fahrern am Sonntag starten konnte, weil die Profi-Teams den gewillten Athleten keine Freigabe erteilten und so niemand für den erkrankten Nikias Arndt nachnominiert werden konnte. 
 

Van Aert & Hirschi – unterschiedliche Medaillen-Emotionen

Die Enttäuschung versuchte Wout van Aert nicht zu überspielen. Wenige Tage nach seiner Silber-Medaille im Einzelzeitfahren sprintete er am Sonntag auf Rang zwei im Straßenrennen. „Ich bin enttäuscht, Zweiter ist schmerzhaft“, sagte Van Aert im Ziel. „Ich fühlte mich großartig, ich hatte die Beine, die ich wollte. Aber einer war besser. Zwei Mal Silber trifft mich hart“, sagte Van Aert gegenüber Sporza.
Mit etwas Abstand wird sich die Enttäuschung vielleicht etwas legen, denn das belgische Team hat sich nichts vorzuwerfen. Sie sind ein super Rennen gefahren, aber Van Aert konnte nicht folgen, als Alaphilippe seine Attacke setzte. Dass der Belgier anschließend wenig Unterstützung der Begleiter bekam, liegt an seiner eigenen Stärke. Denn wer auch immer mit Van Aert um den Titel sprintet, hat am Ende mit großer Wahrscheinlichkeit das Nachsehen. So ist es eben im Radsport. 
„Wir sind ein gutes Rennen gefahren, haben uns nichts vorzuwerfen“, bilanzierte National-Coach Rik Verbrugghe gegenüber Het Nieuwsblad. „Wir sind auf einen Super-Alaphilippe und einen Super-Ganna (im Zeitfahren) getroffen, das ist zwei Mal Silber“ so Verbrugghe und schob nach: „Es tut mir wirklich leid für die Jungs, die so hart gearbeitet haben, aber Alaphilippe war zu stark.“
Ganz anders die Gemütslage bei Marc Hirschi. Der 22-Jährige Schweizer holte seine erste Medaille bei der Elite. „Die Medaille bedeutet mir viel“, so Hirschi. „Sie ist nach der Tour nochmals eine Bestätigung, dass ich das Niveau habe, ganz vorne mitzufahren.“ Mit großem Selbstvertrauen und ohne Druck kann Hirschi nun in die Klassiker-Saison gehen. 
 

Roglic und der Belgier – kein Team-Rennen

Wenige Minuten nach dem Ende der WM begannen die Diskussionen. Hätte Primoz Roglic für seinen Jumbo-Visma-Teamkollegen Wout van Aert die Lücke zu Julian Alaphilippe zufahren müssen? Soll der Slowene als Dank für die Dienste Van Aerts bei der Tour der France seine eigenen Medaillen-Ambitionen begraben um Van Aert die Chance auf den Titel zu ermöglichen?  Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – dies war nicht allein die Diskussion der belgischen Fans. Selbst niederländische Ex-Profis waren dieser Meinung.
„Ich denke, er (Roglic) hat alles getan, was er konnte, er war am Limit. Er wusste, dass er das Rennen in dieser Gruppe niemals gewinnen konnte“ , sagte Van Aert gegenüber Het Nieuwsblad. Roglic selbst machte ebenfalls seine Position klar. „Ich habe alles gegeben, schließlich ist er mein Teamkollege. Ich hätte es vorgezogen, wenn er anstelle von Alaphilippe Weltmeister geworden wäre. Ich selbst war völlig an meinem Limit und musste mich anstrengen, um mit dem ersten in unserer Gruppe Schritt zu halten, ich konnte nicht einmal sprinten“, so der Slowene. Thema beendet? Abwarten.
 

Danke, Imola

Kurzfristig für Aigle & Martigny eingesprungen stampfte man in Imola die WM aus dem Boden. Klar, nicht alles lief perfekt, wie der eingestürzte Zielbogen nach dem Zeitfahren. Aber die Strecken waren sensationell und vom Charakter zudem ähnlich der geplanten Schweizer-Strecken, was für die Mannschaften durchaus wichtig war, hatte man schließlich einen Vorbereitungs-Plan ausgearbeitet und das Team frühzeitig nominiert.
In Sachen Corona-Angst blieb es in Imola ebenfalls auffallend ruhig. Klar, mit Renn-Blasen und Tests im Vorfeld sind die Regelungen für die Delegationen eh klar, aber auch die Zuschauer hielten sich (überwiegend) an Abstand (und Maske). Auch wenn man lieber eine WM mit schmalem Zuschauerspalier und großen Fan-Partys gesehen hätte, wie in den vergangenen Jahren, wir mussten sportlich auf nichts verzichten. Ein Dank an Imola. Hoffentlich gibts 2021 wieder eine ganz normale WM, auch mit Nachwuchswettbewerben. Dann steigt in Flandern ganz sicher eine richtig geile Radsport-Party. Hoffentlich!