Gent Wevelgem 2020

 

Ein geilen Rennen – Strecken-Innovation wurde belohnt

Früher war Gent-Wevelgem eher als Klassiker der Sprinter bekannt. Klar, es siegten auch Solisten, aber sehr oft wurde das Rennen im Sprint entschieden. Oder zumindest die Aussicht auf einen Massensprint bestimmte das Rennen. Vor einigen Jahren haben die Organisatoren begonnen, das Rennen schwerer zu machen. Die „Plugstreets“ (Naturstraßen) wurden eingeführt und die Passage rund um den legendären Kemmelberg verändert. 
Auch in diesem Jahr hatte man den Parcours der Männer verändert und dabei nicht nur der Start von Deinze nach Ieper verlegt. Er wurde erneut etwas schwerer gemacht – mit Erfolg! Ab rund 80 Kilometer vor dem Ziel wurde ein spektakuläres Rennen geboten, dass in den letzten zwei Rennstunden ohne Pause sensationelle Klassiker-Unterhaltung bot. Ob das allein an der Strecke lag, darf man anzweifeln, fest steht jedoch, dass die absoluten Klassiker-Spezialisten früh ihre Chance ergriffen und am Ende ein sehr sehenswertes Rennen boten. 
Früher ein wenig im Schatten von Ronde & E3-Prijs, was den Unterhaltungswert betrifft, bot Gent-Wevelgem in den vergangenen beiden Jahren Klassikerspektakel pur. Der Plan der Organisatoren scheint komplett aufgegangen zu sein.
 

Mads Pedersen = clever!

Am Ende lieferte sich die absolute Klassiker-Weltspitze einen offenen Schlagabtausch. Jeder versuchte entsprechend seiner Qualitäten seine Chance suchen. Alberto Bettiol mit der recht frühen Attacke 5km vor Ziel, nachdem er sich lange zurückgehalten hatte; Stefan Küng, der mit brachialem Konter seine TT-Qualitäten ausspielen wollte, Matteo Trentin mit seinem perfekten Angriff zwei Kilometer vor dem Ziel und natürlich der Sieger – Mads Pedersen. Er ließ geschickt andere die Lücken schließen und setzte den Konter, als das Trio um Trentin, Senechal und Bettiol einige Meter weg war und niemand nachführen wollte. Dass Pedersen am Ende gegen das Trio im Sprint gewinnt, ist nicht überraschend. 
Mads Pedersen war nicht der stärkste Fahrer im Rennen, hat aber verdient gewonnen. Hätte er noch das Weltmeister-Trikot getragen, hätte man ihn dann vielleicht zuvor mehr in die Pflicht beim Lückenschließen genommen? Möglich. Doch am Ende waren nur die „großen Jungs“ dabei – da weiß man gegenseitig um die Qualität.
 

Wout vs Mathieu – Alle, nur nicht WvA?

Das Finale des Rennens könnte man sich problemlos zehn Mal anschauen und jede einzelne Attacke analysieren. Am Ende hat jeder Fahrer seine Karten voll ausgespielt und Fehler waren nicht zu sehen. Bis auf das inzwischen legendäre Crosser-Duo – Wout van Aert und Mathieu van der Poel. Wobei man Van Aert kaum einen Vorwurf machen kann, denn er hat es nicht nur selbst probiert wegzukommen, sondern auch konsequent nachgesetzt. Bei Van der Poel hingegen konnte man den Eindruck gewinnen, als konzentriere er sich komplett auf Van Aert.
Van Aert machte sich nach dem Rennen Luft und meinte, dass Van der Poel vor allem wollte, dass er nicht gewinnt. Diese Reaktion kann man durchaus verstehen, anders an Van Aert schloss Van der Poel nur die Lücke zu Van Aert, wollte um die anderen Ausreißer einzuholen seine Kräfte nicht aufwenden. 
„Ich denke, das ist eine etwas seltsame Reaktion“, wehrte sich van der Poel gegen die Vorwürfe Van Aerts gegenüber Sporza. „Für mich ist Wout einer der besten Fahrer in der Spitzengruppe. Und wenn er geht, muss ich natürlich reagieren“ und fügte an: „Ich finde es gemein, zu sagen, ich fahre, damit er verliert, während ich immer um den Sieg fahre“. Verständnis für die Reaktion von Van Aert hatte der Niederländer aber dennoch. Und man darf Van der Poel zu gute halten, dass er früh im Rennen viel Investierte, um die Vorentscheidung herbeizuführen. 
Es sind zwei absolute Ausnahmeathleten, die wohl auch am Sonntag die Stärksten waren. Aber Radsport wird eben nicht allein durch Stärke entschieden. Wenn sich zwei streiten, …. das nächste Duell gibts bei Ronde van Vlaanderen, …. hoffentlich!
 

Hut ab, Fans!

Die Organisatoren hatten vor dem Rennen die Fans gebeten Abstand zu halten und besser daheim zu bleiben. Denn nur wenn durch die Radrennen keinen erhöhte Ansteckungsgefahr für Zuschauer zu befürchten ist, können die weiteren flämischen Rennen ausgetragen werden. Die TV-Bilder zeigten es eindeutig, den Fans ist ihr Sport so wichtig, dass sie daheim bleiben. Hut ab! 
„Ich war im Vorfeld von Gent-Wevelgem etwas beunruhigt. Würden alle den Rat befolgen?“, sagte Orga-Chef Van den Spiegel Het Nieuwsblad. Nach dem Rennen war er erleichtert: „Die Radsportfans haben bewiesen, dass ich mir überhaupt keine Sorgen machen muss. Es zeigt, dass jeder seinen Teil dazu beitragen will, indem er die Rennen von zu Hause aus verfolgt.“  
Das eigene Bedürfnis hinten anstellen, um der großen Mehrheit etwas zu ermöglichen – genau das haben die Fans am Sonntag getan. Es sind eben keine „Event-Fans“, denen das reine Spektakel und die Party wichtig ist. Es stehen da ganz offensichtlich sonst genau die an der Strecke, die diesen Sport wirklich lieben. Und sie können sich ganz sicher sein, dass die Profis es ihnen danken werden, sobald es wieder normale Rennen gibt. Denn die Jungs auf dem Rad vermissen die Fans an der Strecke mindestens genau so sehr, wie andersrum.  
 

Küng & Degenkolb werden Paris-Roubaix vermissen

Paris-Roubaix wurde (leider) bereits abgesagt. Verständlich, bei der aktuellen Situation in Nordfrankreich. Das wird sehr, sehr viele Fahrer enorm schmerzen. Zwei sicher ganz besonders: Stefan Küng und John Degenkolb. Beide sind in absolut herausragender Form. Die giftigen Anstiege der Ronde sind zu schwer, aber das anspruchsvolle Pflaster ideal für diese Ausnahmesportler.
Was Küng in den vergangenen Wochen, und auch wider bei Gent-Wevelgem, zeigte, ist sehr beeindruckend. Wenn er aufs Tempo drückt, muss die Konkurrenz zusammenarbeiten, sonst ist der Schweizer über alle Berge  Pflasterstücke. Er wäre einer der absoluten Top-Favoriten auf eine Platz auf dem Treppchen im Velodrom von Roubaix. Schade, für den sympathischen Schweizer.
Wie sehr John Degenkolb dem Tag entgegenfiebert, mit der Startnummer auf dem Rücken über sein Pflasterstück zu brettern, kann sich wohl jeder denken. Zudem ist der Roubaix-Sieger von 2015 ganz offensichtlich wieder in einer Form, dass der zweite Stein greifbar wäre. 
Für Van Aert, Van der Poel und Co ist es natürlich ebenso schade, wie für uns alle. Da hilft nur eines: Besonnen die Rennen feiern, die es gibt und sich auf die neue Saison freuen.
 
Cav, die Legende
Er konnte kaum etwas sagen, denn die Emotionen überwältigten ihn. „Vielleicht war das dass letzte Rennen meiner Karriere“, sagte Mark Cavendish im Ziel von Gent-Wevelgem und weinte. Viele Fans und Kollegen waren ebenso berührt, denn sollte es tatsächlich so sein, wäre dies nicht der Abschied, den er verdient.
Mark Cavendish ist eine Legende! Nur Eddy Merckx hat mehr (nur 4 mehr, Cav hat 30! ) Tour de France Etappen gewonnen. Satte 146 Profisiege hat Cav eingefahren, in seiner langen Karriere. Er war stets eine streitbare Person, die nicht bei allen beliebt ist. Aber das gilt für jeden großen Sportler, für jeden Menschen.  
Er hätte es mindestens verdient, dass sein Team in der Neutralisation seines letzten Rennens in einer Reihe fährt um diese Legende zu verabschieden. Er hätte die große Bühne verdient, dass große Abschiednehmen aus dem Peloton, dass die Fans zumindest am TV feiern können. Er hatte zuletzt schwere Jahre, war längst nicht mehr der „alte Cav“, aber er hat dennoch Respekt verdient. 
Aktuell steht er im vorläufigen Aufgebot für den Scheldeprijs am Mittwoch. Vielleicht sehen wir dann ja die Bilder, die wir ihm wünschen würden.