Der erste Lockdown im Frühjahr 2020 traf die gesamte Gesellschaft hart. Das Leben änderte sich abrupt, langfristiges Denken und Handeln war kaum möglich. Auch für Profi-Sportler bedeutet die Corona-Pandemie einen heftigen Einschnitt – Wettkämpfe wurden abgesagt, monatelanges Training ohne Belohnung und plötzlich schien es so, als lösten sich sämtliche Ziele in Luft auf.

„Da Ziele und motivationale Aspekte normalerweise verknüpft sind, ist bei einigen Radsportler:innen erst einmal eine Art Schockstarre eingetreten“, erklärt Sportpsychologin Grit Moschke. Trainings- oder Wettkampfstrukturen brachen weg, „eine Phase der Unsicherheit und des Wartens trat ein“, so Moschke. Der Nachwuchs hatte zudem noch mit Alltagsproblemen zu kämpfen, wie etwa der Anpassung an Onlineunterricht und deren Begleiterscheinungen.

Existenzangst

Wenige Wettkämpfe bedeuteten auch, dass sich Sportler nicht zeigen konnten, keine Chance hatten, sich potenziellen Arbeitgebern zu empfehlen. Das betrifft vor allem den Nachwuchs auf dem Sprung zu den Profis, aber selbst große Mannschaften bekamen Probleme, weil ihre Sponsoren die Auswirkungen der Krise zu spüren bekamen (Beispiel CCC). „Bei Radprofis hat sich teilweise eine existenzielle Angst entfaltet, da es keine Rennen mehr gab und die Zukunft von einigen Teams unsicher geworden ist“, führt Moschke aus.

Dabei hatten es die deutschen Radsportler noch vergleichsweise gut. „Man konnte auf der Straße zu zweit trainieren. In Spanien, Italien und Frankreich wurde für sechs Wochen in den eigenen vier Wänden auf der Rolle trainiert. Ich habe mir oft die Frage gestellt, was ich empfohlen hätte, wenn ich in diesen Ländern als Sportpsychologin tätig gewesen wäre. Es ist bis heute noch eine Knobelfrage, ein echter Extremfall“, so Moschke.

E-Sport- Events mit positiver Wirkung

„Im Radsport sind verschiedene Bedürfnisse wie Struktur, Vielfältigkeit, Freiheit, Dauerstruktur, Wettkampf – und der Teamgedanke sehr stark ausgeprägt. Dieses Zusammenspiel ist schnell ins Wanken geraten. Eine Form von Deprivation, bei der seelische Bedürfnisse unterdrückt bzw. nicht wie sonst ausgelebt werden konnten, hatte sich eingestellt. Die E-Cycling-Wettkämpfe konnten das wenigstens etwas abpuffern“, so Moschke.

Mentale Phasen

Moschke hat die Auswirkungen der Krise auf die Sportler analysiert und in Phasen eingeteilt:

In der Adaptionsphase ging es um eine Art Akzeptanz oder Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen in der Coronakrise und allen Einschränkungen.
In der Kreativphase wurden alternative Tagesstrukturen oder auch die E-Cyclingrennen immer stärker genutzt, um die Wettkampfstruktur zu adaptieren.
Die Hoffnungsphase war ausgerichtet auf den Moment, dass es doch endlich wieder losgeht.
Die Sommertrainingsphase hatte begonnen, mit dem Ziel doch noch den einen oder anderen Wettkampf zu bestreiten. Ein Phase mit einem positiven Ausblick und hohem Motivationsanstieg. Teilweise ist in dieser Zeit die Bedürfnisspannung nach Training und Wettkampf enorm gestiegen.

Herbst – und Winterphase hatten bei den Profis fast einen fließenden Übergang, da die wichtigen Rennen bis in den Oktober angedauert haben. Dabei ist durch die Coronamaßnahmen stets auch zusätzlicher Stress entstanden – waren die vielen Test beispielsweise immer mit Hoffen & Bangen verbunden, dass das Testergebnis negativ ausfällt.

„Das Jahr 2021 beginnt nun mit der Hoffnung auf die Impfungen und das damit verbundene Wiedereinsteigen in einen vielleicht normalem Saisonablauf für junge und erfahrene Radsportler:innen„, sagt Moschke.
Mit dieser Hoffnung sollte auch die Energie für Training und Wettkampf wieder ansteigen.

Strategien um das Loch zu füllen

In Telefongesprächen und Onlineberatungen hat Grit Moschke jede Menge Strategien vermittelt, mit der Situation agil umzugehen. Dabei hat sie auch beobachtet, was die Sportler:innen selbstständig wählten, um das Loch des Lockdowns zu füllen.

Sachen wie „mehr Zeit mit der Familie oder Freunden verbringen“ gehörten ebenso dazu, wie „Selbstvermarktung & der Blick nach vorn“ oder „Bikepacking & intensive Nutzung von Gravelbikes“. Dazu kam einfach „viel Entspannung“. Auch hätten sich „einige Sportler mehr mit ihrer Psyche beschäftigt und mentale Programme ausprobiert„, erklärt Moschke.

Ihr Erfahrung zeige, dass normalerweise erst psychologische Hilfe beansprucht wird, wenn das „Leiden“ groß genug ist. Aber im Corona-Jahr gab es neben der „Feuerwehrfunktion“ auch eine große Nachfrage nach Mentaltechniken und Selbstoptimierung für Training und Wettkampf, um für die zukünftigen Herausforderungen gerüstet zu sein.

Altersunterschiede & Krisenerfahrung

Welchen Weg die Sportler wählten, mit der besonderen Situation umzugehen, war sehr unterschiedlich. Grundsätzlich konnte man beobachten, dass „junge Radsportler:innen weniger Existenzängste haben, aber sich dennoch vermehrt Sorgen um Familie und Studium machten. Die Profis und ‚älteren‘ Sportler machten sich auch Sorgen um ihre Existenz, ihre Familie und natürlich die Radsportkarriere“, so Moschke.

Bei dem Vergleich spielen Verantwortungsspielraum und eine gewisse emotionalen Stabilität eine Rolle. „In beiden Altersgruppen waren depressive Verstimmungen und aggressive Grundstimmungen zu beobachten, die aufgrund der Einengung der Grundbedürfnisse entstanden sind. Aber in diesem Zusammenhang haben sie ihre Berechtigung als gesunder Selbstausdruck“, erklärt Moschke.

Krisenbewältigungsstrategien seien immer von mehreren Faktoren abhängig – „Persönlichkeitsfaktoren, Umgebungsbedingungen, Familienunterstützung und von entwickelten Widerstandskräften, sogenannten Resilienzen“, erklärt Moschke. Wer bereits eine oder mehrere Krisen oder Karrieretiefs hinter sich hat, kann eine Coronakrise etwas einfacher managen, als jemand ohne Krisenerfahrung.

Erkenntnisse

„Für meine Arbeit als Sportpsychologin nehme ich mit, dass die meisten Sportler:innen ihren „Krisenweg“ selbst finden„, sagt Moschke. „Es erscheint mir sinnvoll alternative sportliche Ziele zu schaffen, sogenannte Ersatzziele oder Alternativziele zu formulieren, um die Motivation und die persönlichen Strukturen und Routinen so gut wie möglich zu stabilisieren. Wenn die Physis ausgeglichen ist, ist es meist die Psyche auch„.

Bewegung und der Aufenthalt in der Natur ist das einfachste Mittel, um Stress in der Krise abzubauen. „Radsportler hatten in diesem Fall in Deutschland glücklicherweise ein leichtes Spiel“, so Moschke.

„Als negativen Einfluss sehe ich die Onlinekultur als Trainingszeitersatz und damit verbunden, ein ‚günstiger‘ Moment für Suchtentwicklung – also wenn die Trainingssucht zur Spielsucht mutiert. Aus diesem Grund wäre es sinnvoll, würden Trainer die Rolle des Kommunikators verstärken, um im System Training und Wettkampf zu stabilisieren“, so Moschke.

Viele Sportler:innen fanden einen Weg, mit der Krise umzugehen. Sie haben selbständig, oder mit externer Hilfe durch Sportpsychologen Wege gefunden, die Situation zu meistern. Das gibt ihnen Erfahrungen, aber auch das Wissen, dass sie Krisen meistern können. „Das hat ihre Handlungskompetenz als mündiger Athlet verstärkt“, ist sich Moschke sicher.

„Meine Tages- und Wochenplan Methode hat in den Beratungen und Coachings sehr gut funktioniert, das würde ich genauso wieder machen“, sagt Moschke und denkt, was die Zukunft betrifft, einen Schritt weiter.

„Für Radsportexperten, wie z.B. Trainer oder Sportpsychologen:innen  könnte ein methodisches Gesamtkonzept entwickelt werden, um mentale Krisenphasen gekonnt zu stemmen. Auch ein Radprofi sollte das beherrschen“, erklärt sie. „Dieses Gesamtkonzept sollte mindestens einmal in der gesamten Karriere vermittelt werden, um die mentale Gesundheit der Sportler/innen zu schützen. Eine Vorwegnahme von potentiellen Krisenfaktoren und die Kenntnis darüber verschafft mehr Sicherheit und steigert die Handlungskompetenz bei Jugendlichen und bei Profis“, so Moschke.

Die Auswirkungen der Corona-Pandemie habe extrem viele Sportler:innen in eine Krise gestürzt aber auch neue Türen geöffnet – von den Erkenntnissen können viele Sportler in der Zukunft profitieren. Für viele Sportler war es ein lehrreiches Jahr, voller ungewöhnlicher Erfahrungen. Sehr viele Sportler können mit der Gewissheit über die bewältigte Krise optimistisch in die Zukunft schauen.


Über Grit Moschke: Sie ist Dipl.-Psychologin und Expertin der Sportpsychologie mit eigener Praxis in Köln und tätig für den Olympiastützpunkt Rheinland. Sie begleitet seit 13 Jahren zum größten Teil Radsportler/Innen und Athleten aus anderen Sportarten.