Es war die 15. Etappe der Tour de France 2020. Titelverteidiger Egan Bernal litt, er bekam Probleme das Tempo zu halten und musste die Konkurrenz schließlich ziehen lassen. Mehr als sieben Minuten nach dem späteren Gesamtsieger Tadej Pogacar rollte er ins Ziel. Die Tour war gelaufen. „Ich hatte es schon etwas befürchtet“, sagt Daniel Schade. „Am Fernseher war erkennbar, dass die Bewegung im unteren Rücken nicht gleichmäßig war. Besonders am Berg war das rotierende Becken erkennbar. Da wusste ich, dass es nicht gut gehen wird“, so Schade.

Der Sportwissenschaftler weiß wovon er spricht. Seit mehreren Jahren betreut er Bernal und sein Team Ineos in Sachen Sitzposition. Bernal war bereits in den Jahren zuvor bei „gebioMized“ in Münster. Das Unternehmen hat sich in Sachen Bikefitting einen exzellenten Ruf erarbeitet und mehrere Top-World-Tour-Teams zählen zu den Kunden.

Bernals Problem mit den Beinen

Zwei Tage nach dieser 15. Etappe stieg Bernal endgültig vom Rad, die Schmerzen im Rücken waren zu groß. Hervorgerufen werden Bernals Probleme durch unterschiedlich lange Beine. Seit Jahren begleiteten ihn immer wieder Probleme, bei der Tour 2020 war es einfach zu heftig geworden.

Bei großer Belastung kann Druck auf eine Bandscheibe entstehen, was große Schmerzen verursacht. „Solche Probleme treten vor allem im Spitzenbereich auf. Bei Egan konnte ich die Bewegungen und die etwas schiefe Stellung des Beckens erkennen – da leidet man als Fitter natürlich beim Zuschauen mit“, so Schade.

Die Pandemie als Problem-Teiber

An Bernals Problemen arbeitet man schon länger gemeinsam mit gebioMized. Analysen, Bahntest, Sitzposition, spezielle Einlagen, Sattel, Cleats – das volle Programm, bereits als Bernal zum Team Ineos kam. „Es ist ein kontinuierliches Arbeiten. Genau das war auch im Jahr 2020 ein großes Problem“, sagt Schade. Bernal entwickelte sich als Fahrer auch bei Ineos schnell weiter. Auch an den Folge-Problemen der Beinlängendifferenz wird kontinuierlich gearbeitet.

„Egan tut es gut, wenn er sich von Rennen zu Rennen steigern kann“, erklärt Schade und spielt auf die steigende Belastung an, die eine Anpassung von Sehnen, Bändern und Muskeln in der Saison nach sich zieht. „Das ging 2020 alles nicht. Durch die Pandemie war der Aufbau-Prozess gestört, auch was unsere Arbeit betrifft“.

Mit einem Sonderflug für Sportler reiste Bernal überhaupt erst im Juli nach Europa. Bestritt nur wenige Rennen. Schnell wurden dann die Probleme sichtbar. „Es wurde dann kurz vor der Tour noch einmal kurzfristig versucht, etwas anzupassen, aber das ging leider nicht in die richtige Richtung. Dann ist es bei der Tour schlicht explodiert“, sagt Schade ruhig.

Wissbegierig und geduldig – Egan Bernal bei gebioMized in Münster (Foto: Franziska Schmidt)

Auf dem richtigen Weg

Nachdem Egan Bernal mit der Startnummer eins am Rad bei der Tour de France vorzeitig aufgeben musste, wurde direkt reagiert. Den ersten kolumbianischen Toursieger wieder schmerzfrei und fit zu bekommen, kletterte auf Position eins der Prioritätenliste bei Ineos.

Bernal reiste für mehrere Tage nach Münster und man setzte alles daran, ihn so schnell es geht wieder aufs Rad zu bekommen. „Natürlich ging es zunächst darum, eine Position zu bauen, die es ihm ermöglicht, wieder zu trainieren“, sagt Schade. In der Analyse wurde wieder das komplette Programm durchgezogen und dann alle Möglichkeiten ausgeschöpft.

„Es gibt mehrere Stellschrauben, an denen man bei einer Beinlängendifferenz mit Bandscheiben-Problemen drehen kann. Wir haben erst wieder den Ist-Zustand aufgenommen, ihn und sein Rad dann mit allerhand Sensorik ausgestattet. Am Ende hatten wird drei unterschiedliche Setups im Labor gebaut, die wir alle unter realen Bedingungen auf der Straße weiter getestet haben, um danach das beste auszuwählen“, sagt Schade. In Münster hat man nicht nur ein Labor für die Tests, sondern auch gleich die Möglichkeit spezielle Einlagen zu produzieren.

Nach wenigen Trainingseinheiten bekam Schades Team von Bernal die Rückmeldung, dass man tatsächlich für viel Entlastung gesorgt hatte.

Das Problem mit dem schiefen Becken

Unterschiedlich lange Beine sind kein allzu seltenes Phänomen. Für Radsportler kann das aber schnell zum Problem werden. Sitzt man schief, gibt es schnell Probleme mit dem Rücken. „Auf dem Rad haben wir an Pedale und Sattel die Kontaktpunkte. Wir messen auch die Druckverteilung, am Sattel und im Schuh – so können wir eine Asymmetrie ganz genau erkennen“, sagt Schade.

Ist das eine Bein etwas kürzer, gleicht der Körper das aus. Etwas spitzer treten ist eine Möglichkeit – allerdings mit ordentlich Watt-Verlust. „Man muss sich das immer genau anschauen und sich dann an das Optimum rantasten“, sagt Schade. Anders als Hobby-Sportler können Profis nicht einfach den Sattel wechseln, oder auf die Pedale & Schuhe anderer Hersteller zurückgreifen. Profi-Teams sind meist an die Partner gebunden.

Egan Bernal – Testfahrt nach Anpassungen (Foto: Franziska Schmidt)

Bernal wird stärker zurückkommen

Im Falle von Egan Bernal hat man zunächst ein Setup gewählt, was mehr Komfort schafft. Spezielles Muskulatur-Training hilft beim Aufbau. Läuft das Training wie gewünscht, kann man das Setup mehr auf Performance ausrichten. In der Weltspitze sei es in Sachen Position immer ein Tanz auf der Rasierklinge, erklärt Schade, der auch bereits mit Triathleten wie Jan Frodeno oder Anne Haug zusammengearbeitet hat.

Für Egan Bernal ist Schade sehr optimistisch. „Die Effekte unserer Anpassungen werden wir vielleicht erst 2022 oder 2023 so richtig sehen, aber ich würde Egan auch für 2021 auf keinen Fall abschreiben“, sagt Schade bestimmt. Man hat die Probleme des vergangenen Jahres genau analysiert und beim Team auch die Planungen in Sachen Renneinsätze angepasst. Auch die Abstimmung mit gebioMized läuft nun direkter.

„Egan ist eine beeindruckende Persönlichkeit, er will alles wissen, arbeitet sehr professionell, auch mit uns. Obwohl er bereits die Tour gewonnen hat, gibt es bei ihm noch einiges zu entwickeln, da ist noch Luft nach oben“, ist sich Schade sicher.

Der nächste Termin von Bernal bei gebioMized ist schon geplant. Geht alles glatt, wird mit Bernal in diesem Jahr wieder zu rechnen sein, für die fernere Zukunft darf man dann noch reichlich Top-Resultate erwarten. Erst vor wenigen Tagen feierte Bernal seinen 24. Geburtstag – es bleibt ihm noch reichlich Zeit, auch für weitere Toursiege.

Tüfteln an den Setups (Foto: Franziska Schmidt)