Mathieu van der Poel

Radrennen und Taktik sind eine komplizierte Sache. Vor allem bei Rennen wie der E3 Saxo Bank Classic. Eine Kleinigkeit kann die Rennsituation grundlegend verändern und die gesamten taktischen Überlegungen der Teams beeinflussen. Das Team Deceuninck-Quickstep lieferte ein nahezu perfektes Rennen ab und holte verdient einen Doppelsieg. Sie zeigten dabei auch, wie Mathieu van der Poel und Wout van Aert trotz ihrer Stärke zu besiegen sind.

Ein Platten als Knackpunkt

So stark und clever das Rennen der belgischen Equipe auch war, ohne den Defekt von Wout van Aert wäre das Rennen wohl ganz anders gelaufen. Denn nach dem Taaienberg stand eine Gruppe, die ohne Van Aerts Platten gute Chancen gehabt hätte, durchzukommen. Gleich vier Fahrer von Deceuninck-QuickStep waren dabei (Senechal, Asgreen, Lampaert, Stybar) dazu Van der Poel, Van Aert, Michael Matthews, Matteo Trentin und Jasper Stuyven.

Höchstwahrscheinlich wären sie gemeinsam so hart gekreiselt, bis der Vorsprung auf das Feld ausreichend groß erschien, um den Sieg unter sich auszumachen. Stark genug dafür sind diese Fahrer allemal.

Hätte, wäre, wenn – Van Aerts Defekt sorgte jedoch für eine ganz neue Situation. Denn nachdem Van Aert ins Feld zurückgefallen war, beteiligte sich Jumbo-Visma an der Nachführarbeit und man konnte die Lücke nach vorn tatsächlich wieder schließen.

Asgreen, der König der Nutzfahrzeuge

Van Aerts Platten hatte also den gesamten Verlauf des Rennens maßgeblich beeinflusst. Das Rennen schien eben noch vorentschieden, nun wieder komplett offen. Was dann passierte, war die gute alte Überzahl-QuickStep-Taktik in Perfektion: Einer voraus, hinten wird abgeriegelt.

Kasper Asgreen, der vermutlich nur noch keinen Spitznamen eines völlig übermotorisierten Automobils trägt, weil selbst LKW-Zugmaschinen als Analogie zu schwach erscheinen, griff an und zog davon.

Asgreen ist der ideale Mann, für die Rolle des Hasen. Kraftvoll, ausdauernd und offenbar mental zu jeder Art von Flucht bereit. So konnten Asgreens Teamkollegen das machen, was sie am liebsten tun: Jede Attacke neutralisieren und der Konkurrenz zeigen, dass sie es sind, die im Falle der Einholung von Asgreen davonstiefeln. Denn wer gewinnt ist egal, solange es einer aus ihrem Rudel ist. Da ist Radsport eben immer eine Frage der Stärke und der Kraftersparnis im Windschatten.

Druck, Druck, Druck

Deceuninck-QuickStep hatte also die ideale Situation geschaffen. Ein Tretmonster vorn und 3-4 hungrige Wölfe in der Gruppe der Schafe dahinter. Sie riegelten ab, neutralisierten jeden Konter und sorgten so dafür, dass Asgreen mit der finalen Attacke den Sieg holte. So geht Radsport. So einfach, so schwer.

Was dabei auch offensichtlich wurde, könnte weitreichende Folgen für die nächsten Rennen haben. Denn die beiden Überflieger Wout van Aert und Mathieu van der Poel waren vermutlich erneut die stärksten Fahrer im Feld, aber ohne Siegchance. Denn ab Asgreens Attacke waren sie stetig unter Druck. Sie waren es nicht, die bestimmten was passierte, sondern sie mussten die Last des Rennens tragen. Sie sind die Stärksten, also müssen sie Asgreen zurückholen, wollen sie gewinnen. Die anderen wollen natürlich auch gewinnen, sind aber nicht so stark. Da ist Radsport = Schulhof. So gerieten die Über-Crosser unter Druck, in die Defensive.

Beide nahmen diese Rolle fast selbstverständlich an, ergaben sich ihrer eigenen Stärke. Das lässt sich an mehreren Situationen gut erkennen. Da sind zwei Top-Fahrer und Ag2R-Teamkollegen (Oliver Naesen und Greg van Avermaet) mit in der kleinen Gruppe, „liegen aber nur drauf“, wie man so schön sagt. Gut, alibimäßig ging Naesen vielleicht mal mit durch die Führung, aber sie hielten sich offensichtlich zurück, sparten Kräfte. Das wurde offensichtlich akzeptiert, vom Über-Duo.

Oder die Situation, als die kleine Verfolgergruppe mit Van der Poel, van Aert, Stybar und Van Avermaet hinter der enteilten Gruppe um Turgis, Nasen & Co. herjagte. Van der Poel hatte mit Vermeersch einen Teamkollegen vorn, genau wie Van Avermaet und natürlich Stybar. Doch Van der Poel machte gemeinsam mit Van Aert das Tempo, obwohl er einen Mann vorn hatte. Es schien so, als würden Van Aert und Van der Poel bereitwillig die Favoritenrolle mit allen Verpflichtungen übernehmen und dabei auch die Last des Rennens tragen.

Taktik-Blaupause

Die ganze Welt hat gesehen, dass man durchaus die Chance hat, gegen Van der Poel und Van Aert zu gewinnen, erst recht, wenn man sie unter Druck setzt. Wenn man eine Situation schafft, dass sie reagieren müssen, statt selbst agieren zu können.

Ist das nun eine taktische Blaupause für sämtliche Klassiker? Vielleicht. Das würde bedeuten, dass die Konkurrenz auch in Zukunft versuchen wird, früh Druck zu erzeugen und in die Offensive zu gehen. Wie werden Van Aert und Van der Poel darauf reagieren?

Was machen die Crosser?

Es gibt Rennen, da spielt die brachiale Stärke eine größere Rolle – so etwa die Flandern-Rundfahrt. Die Ronde ist so schwer, dass die Taktik weit weniger wichtig ist, als beim E3-Prijs. Bei diesen 260 brutalen Kilometern zählt die Klasse und jeder Tropfen Sprit im Tank deutlich mehr. Hier sind die beiden Crosser aufgrund ihrer Qualität sicher viel schwerer in Bredouille zu bringen. Sie können das Rennen kontrollieren und dann im Finale „auf Stärke“ davonziehen. Das Terrain mit dem ultraharten Finale ist dafür zudem ideal.

Aber für Rennen wie Gent-Wevelgem oder Dwars door Vlaanderen sind die Voraussetzungen andere. Wie also reagieren Van Aert und Van der Poel auf eine erneute „Druck-Taktik“ der Konkurrenz?

Vor einigen Jahren waren Fabian Cancellara und Tom Boonen in einer sehr ähnlichen Situation. Ihr Lösungsansatz war simpel und gleichermaßen wirksam – Angriff ist eben doch manchmal die beste Verteidigung. Allen Radsport-Fans wäre dies als Lösungsansatz für die Crosser sicher recht – denn es verspricht ähnlich spannende Rennen wie die E3 Saxo Bank Classic. Vorfreude auf die nächsten Klassiker ist definitiv angebracht!