Fabio Jakobsen (Foto: © Wout Beel)

Der Horror-Unfall zum Auftakt der Polen-Rundfahrt 2020 wird vielen ewig in Erinnerung bleiben. Fabio Jakobsen krachte mit rund 80 km/h in die Bande. Er war schwer verletzt, das war sofort klar. Es folgten bange Stunden, für Familie, Freunde, Teamkollegen und Fans. Nun wird Fabio Jakobsen am Sonntag (Update, wegen Schneefall wurde die 1. Etappe am Sonntag gestrichen, Update 2: nun wurde eine alternative Strecke festgelegt und das Rennen findet doch statt) wieder an einem Profi-Radrennen teilnehmen – mit den Bildern des Unfalls im Hinterkopf ist es fast ein Wunder.

Der Unfall hat die Radsport-Welt verändert. Neue Sicherheits-Maßnahmen, neue Banden wurden eingeführt, die gefährliche Ankunft in Katowice wurde abgeschafft. Dylan Groenewegen, Verursacher des Unfalls, wurde bestraft und gesperrt. Jeder Massensprint wird nun auch ein wenig anders betrachtet.

Menschlichkeit

Vor seinem ersten Rennen seit dem Unfall sagte Jakobsen, dass er gesehen hat, dass nichts selbstverständlich ist, wie schnell alles vorbei sein kann. Sein Unfall hat dies vielen vor Augen geführt. Die Bilder, wie sein Teamkollege Florian Sénéchal weinend am Straßenrand saß, nachdem er einer der ersten war, die nach dem Unfall Jakobsen halfen, bleiben bei vielen hängen. Sénéchal hatte instinktiv Jakobsens Kopf gehoben, damit all das Blut abfließen kann. Seine Sorge, er könne damit wegen einer Wirbel-Verletzung Schaden anrichten, war unbegründet, wie sich später herausstellte. Sénéchal rettete seinem Teamkollegen das Leben und musste später psychologisch betreut werden.

Der Unfall war der schlimmste Radsport-Tag des Jahres 2020, brachte aber auch etwas zu Tage, was im rauen Profisport und durch den heftigen öffentlichen Druck immer seltener sichtbar wird: Menschlichkeit. Der damalige UAE-Teamarzt Dirk Tenner hatte nach dem Unfall die medizinische Erstversorgung gemacht und begleitete Jakobsen bis ins Krankenhaus. Bis heute ist er mit Jakobsen in Kontakt und wird am Sonntag mindestens mit Gänsehaut dessen Comeback verfolgen.

Der verheerende Sturz zum Auftakt der Polen-Rundfahrt 2020

Wille & Dankbarkeit

Fabio Jakobsen beantwortet bei der digitalen Pressekonferenz ruhig alle Fragen. Er sagt, dass er Trainingsrückstand hat, aber die Grundlage gut ist. Er wisse nicht, wie es sich anfühlen wird, ob er vielleicht sogar bereits mitsprinten kann. Er glaube es aber eher nicht. Cavendish ist der Kapitän, sagt er. Er sei aufgeregt, fühle sich fast ein bisschen wie ein Neo-Profi.

Er spricht ruhig und klar. Als es um die weiteren Behandlungen und die anstehenden OPs geht, öffnet er den Mund und zeigt ganz selbstverständlich den fast komplett zahnlosen Kiefer. Es sei ihm klar, dass er nicht wissen kann, wie es im Rennen sein wird. Er spricht über psychologische Hilfe, die er erhalten hat, auch von der Familie.

Jakobsen wirkt entschlossen, beeindruckend klar und reflektiert. Er macht den Eindruck, dass er zu 100% bereit ist. Sich nach dieser Geschichte vor dem ersten Rennen vor fast fünf Dutzend Journalisten zu setzen, ist sicher auch keine leichte Aufgabe.

Persönlichkeit

Es ist nicht das, was Jakobsen sagt, was beeindruckt. Es ist seine Ausstrahlung. Als er nach dem Heiratsantrag gefragt wird, den er seiner Freundin Delore machte, zeigt er sein zahnloses Lächeln. Er berichtet davon, wie eingeschränkt er nach dem Unfall war, sich nicht waschen konnte und gefüttert werden musste. Er spricht von dem Band, dass durch solche Erlebnisse entsteht. Und nach all dem, könne er niemand anderen mehr wollen – deshalb der Antrag. Er schmückt es nicht aus, macht die Story nicht bunter, als sie ist.

Man glaubt ihm, wenn er sagt, er wisse noch nicht, wie es wird. Dass er aber in seinen Gedanken schon viele Rennen gewonnen hat. Man kann sich kaum vorstellen, wie schwer die Zeit war, die er durchmachen musste. Aber man kann sich gut vorstellen, dass seine Persönlichkeit nun viel klarer und fester geworden ist.

Freude

Jakobsen sagt, dass er sich freut, zurück ins Peloton zu kommen. Er freut sich darauf, mit den Kollegen im Feld sprechen zu können. Er weiß, dass alle den Unfall gesehen haben und er ganz sicher viele Gespräche führen wird. Man glaubt ihm, dass es sich tatsächlich wie ein „nach Hause kommen“ anfühlt. Sein Ziel ist klar – das Rennen zu beenden. Es ist ihm zu wünschen, dass ihm das gelingt. Es scheint so, als stünde er vor einem Meilenstein seiner Unfall-Bewältigung.

Fabio Jakobsen & Freundin zurück auf dem Rad – November 2020

Noch lange kein Abschluss

Über eine Sache sprach Jakobsen nicht: Dylan Groenewegen. Verständlicherweise, hat das Thema doch viele Dimensionen. Persönlich miteinander gesprochen haben die beiden offenbar noch nicht. Man kann sich aber gut vorstellen, dass ein solcher Schritt psychologisch komplex und wohl überlegt sein muss. Da im Zusammenhang mit dem Unfall auch ein juristisches Verfahren angeschoben wurde, bekommen Äußerungen der Beteiligten noch eine weitere Dimension.

Dieser Unfall auch hat das Interesse der Massenmedien geweckt. Logisch. Selbst die großen Zeitungen, die sonst lieber einen Bogen um diesen Sport machen, greifen diese Geschichte auf. Weltweit. Für viele wird Jakobsens Start in der Türkei eine Art Happy End sein. Sollte er irgendwann ein Radrennen gewinnen, wird es natürlich noch einmal einen „Hype“ geben. So erzählt man solche Geschichten eben.

Doch die ganze Geschichte des Unfalls endet nicht so schnell. Bis zum 7. Mai 2021 ist Dylan Groenewegen gesperrt. Wird er wieder ins Renngeschehen einsteigen, wird die Aufmerksamkeit enorm sein, aber in eine ganz andere Richtung gehen. Ob und wie Groenewegen seinen Weg zurück finden wird, ist ebenso offen. Denn auch sein Leben hat sich durch diesen schwerwiegenden Fehler in einem Bruchteil eine Sekunde verändert. Er muss mit der Schuld leben, mit Drohungen und Beschimpfungen. Viele Menschen werden sich über die Rückkehr Jakobsens freuen. Man kann sich gut vorstellen, dass Dylan Groenewegen dazugehört und er ihm viel mehr als einen guten Einstand wünscht.

Wie die beiden künftig miteinander umgehen ist ihre Angelegenheit. Es sind Menschen und nicht nur Profis. Das Interesse der Öffentlichkeit ist groß, aber die Grenzen stellen diese beiden Menschen auf und das sollte respektiert werden. Bei all den Glückwünschen und dem Respekt, der nun Fabio Jakobsen entgegengebracht wird, schwingt die Hoffnung mit, dass auch Dylan Groenewegen fair behandelt wird.

Trotz der schlimmen Folgen für Jakobsen hat dieser Unfall den Radsport in Sachen Sicherheit in eine positive Richtung verändert. Wie er das „Miteinander“ in der kleinen Radsport-Welt verändert hat, wird sich noch zeigen.