Remco Evenepoel

Es war der wohl bislang schlimmste Moment in der Karriere des aus Schepdaal stammenden Remco Evenepoel – bei Il Lombardia am 15. August 2020 steuert der Belgier in einer Linkskurve seine Rennmaschine zu nah an den Straßenrand und fällt über die Begrenzung einer Steinbrücke mehrere Meter in die Tiefe. Die Saison für den ehemaligen Nachwuchsfußballer ist beendet. Diagnose: Beckenbruch.

Der nun 21-Jährige hätte im vergangenen Herbst den Giro als Kapitän von Deceuninck-QuickStep bestreiten sollen, um seinem exzellenten Ruf nun auch als Grand-Tour-Fahrer gerecht zu werden. Zuvor hatte er im Jahr 2020 vier kürzere Rundfahrten bestritten (Vuelta a San Juan, Volta ao Algarve, Vuelta a Burgos, Tour de Pologne), alle vier hatte er gewonnen.

Comeback mehrfach verschoben

Wie es aktuell um die große belgische Radsportsensation steht ist ungewiss. Die Reha verlief nicht wie gewollt, obwohl der Belgier bereits im November nach Spanien ins Trainingslager reiste, um seine Motorik und Athletik wieder ins Lot zu bringen. Er musste, nachdem Probleme auftraten, rausnehmen und das Comeback verzögerte sich.

Remco Evenepoel – Beckenbruch beim Sturz in der Lombardei

Ende Februar teilte Teamarzt Phil Jansen dann mit: „Wir werden mit Vorsicht weiterarbeiten müssen. Es bleibt ein langer Weg, bis er wieder an der Startlinie stehen kann, aber zurzeit läuft alles in die richtige Richtung.“ Remco Evenepoel wird nun wohl erst beim Giro zurückkehren, ohne Rennen seit August 2020. Für die Buchmacher ist er einer der Top-Favoriten auf den Sieg, nach dieser Vorgeschichte und ohne zuvor überhaupt eine Grand Tour bestritten zu haben. Evenepoel hat in seiner jungen Karriere eben schon Dinge geschafft, die niemand für möglich gehalten hat.

Übertalent

Die Frage bleibt: Ist Evenepoel grundsätzlich stark genug, um in drei Wochen Rennbetrieb mit den Schwergewichten der World Tour mitzuhalten und sie am Ende zu besiegen? Wenn man sich den Fahrertyp Evenepoel genauer ansieht, sticht die Größe zunächst ins Auge. Der mit 1,71 Meter Körpergröße ausgestattete Evenepoel fährt einen schmalen Lenker und wirkt mit den nach innen rotierten Bremshebeln in einer extremen Aeroposition. Trotz nur rund 60 kg auf der Waage ist er extrem explosiv, bewegt sich im Feld anders als man erwarten würde. Durch seine aggressive und offensive Fahrweise sicherte er sich in zwei Jahren World Tour gleich fünf Rundfahrten und einen Klassiker. Beim Zeitfahren der 5. Etappe zum Ende der Algarve Rundfahrt ließ der U23-Zeitfahrweltmeister laut der portugiesischen Triathlon Website TriatlonNoticias satte 1.100 Watt am Anstieg nach Malhao purzeln. Direkte Konkurrenten wie Rohan Dennis und Stefan Küng wurden an diesem Tag auf die Plätze Zwei und Drei verwiesen. Nach vier harten Tagen im Hinterland von Portimao solche Werte zu produzieren unterstreicht die physiologische Stärke Evenepoels.

Recht klein und leicht – dennoch ist Evenepoel ein extrem starker Zeitfahrer. Der Junioren Weltmeister 2018, Elite Europameister 2019, und Vize-Weltmeister 2019 gehört zur Weltspitze im Kampf gegen die Uhr und hat dort wohl noch nicht einmal sein komplettes Potenzial ausgeschöpft. Beim Giro 2021 stehen insgesamt 38 Kilometer im Kampf gegen die Uhr auf dem Programm. Diese Disziplin muss er definitiv nicht fürchten.

Zeitfahr-Europameister 2019

Giro-Team

Das Umfeld des Belgiers hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Man kann Deceuninck-QuickStep spätestens seit Joao Almeidas Giro zu einem relevanten Rundfahrerteam zählen. Schon bei Julian Alaphilippes Erfolgen 2019 wechselte man den Fokus und ging auch auf Gesamtwertung. Nach dem Podium beim Giro mit Rigoberto Uran 2014 und den Top6-Resultaten mit Dan Martin 2016 & 2017 rückt man nun die Gesamtwertung erneut mehr in den Fokus.

Klar musste das Team von Patrick Lefevere mit Bob Jungels einen wichtigen Helfer in der Offseason abgeben, aber dennoch hat das „Wolfpack“ mit Almeida sogar die Chance eine Doppelspitze nach Italien zu schicken. Mit Fausto Masnada ist ein weiterer Edelhelfer für den jungen Evenepoel im Gepäck. Ist er komplett genesen und zurück in der Form von 2020, wird wohl Evenepoel der geplante Mann für den Titel sein.

Auch das Material spielt bei der derzeitigen Leistungsdichte eine erhebliche Rolle. Mit Specialized hat Deceuninck-QuickStep den Marktführer an der Seite, bei dem das Ausreizen aller möglichen UCI-Vorschriften an der Tagesordnung steht. Das S-Works Tarmac SL7, der „Dienstwagen“ des ehemaligen Fußballers, ist bekannt für seine gute Performance als Kletter- und Aerorad.

Remco Evenepoel – am liebsten in der Offensive

Fragezeichen

Allerdings gibt es auch Herausforderungen für den Belgier, die keinesfalls außer Acht gelassen werden dürfen. Die Form in einer drei Wochen Rundfahrt zu prognostizieren ist ein sehr komplexes Vorhaben, da man ihn noch nie länger als bei einer einwöchigen Rundfahrt zu Gesicht bekommen hat. Außerdem ist bisher unbekannt, wie der Belgier mit Pässen im Hochgebirge zurechtkommt.

Von einem Egan Bernal weiß man, dass er sich wohl fühlt, wenn es jenseits der 2000 Meter Grenze auf die Gipfel geht, doch bei Evenepoel fehlt einfach ein Erfahrungswert. Der Giro dieses Jahres ist besonders in der
3. Woche extrem zäh und hart. Mit dem Zoncolan auf der 14. Etappe als Zielankunft werden wir sicher einen bestimmenden Richtungsweiser erleben. Auf der 16. Etappe geht es gleich dreimal über Pässe jenseits der 2000 Meter. Der vorletzte Tag beinhaltet mit dem Abstecher in die Schweiz gleich nochmal zwei Zweitausender. Ob er bereit ist in diesen Höhen seine Leistung abzurufen bleibt fraglich.  

Team-Taktik

Ein weiterer Punkt, der beachtet werden muss, ist die Renntaktik in einer Grand Tour. Bei Alaphilippe in der Tour de France 2019 und Almeida 2020 beim Giro hat man das Führungstrikot relativ früh erobert, aber man war sich sicher, dass es brutal schwierig wird es am Ende der 21. Etappe zu behaupten. Wenn Remco früh das Maglia Rosa erobert, ist das Team bereit, es bis zum Ende der drei Wochen zu verteidigen? Bei Deceuninck-QuickStep konnte man bislang eher nicht von einem eingespielten Bergzug ausgehen, wie man ihm beispielsweise bei Ineos Grenadiers oder Jumbo-Visma sieht.

Viele Fragezeichen bleiben also offen, seine Verletzung und die verzögerte Heilung sind eher kein Mutmacher, doch wie er vor Wochen selbst sagte: „Der Stand jetzt ist, dass ich Schritt für Schritt nach vorne schaue und anhand meines Fortschritts entscheide, wie es weitergeht. Das Wichtigste ist, dass ich Fortschritt mache“.

Wie es um diese Fortschritte steht, wird man frühestens beim in Pink gefärbten Start in Turin sehen. Ist Evenepoel tatsächlich wieder so stark, wie vor seinem Unfall, kann man sich auf einen Schlagabtausch mit Egan Bernal und Emanuel Buchmann freuen. Das Einzelzeitfahren am letzten Tag nach Mailand könnte das entscheidende Puzzleteil für den ersten Grand-Tour-Sieg Evenepoels sein. Doch bis dahin sind es noch mehr als 3400 anspruchsvolle Kilometer, in denen alles passieren kann.


Das Team Deceuninck-QuickStep beim Giro 2021:
João Almeida (POR)
Rémi Cavagna (FRA)
Remco Evenepoel (BEL)
Mikkel Honoré (DEN)
Iljo Keisse (BEL)
James Knox (GBR)
Fausto Masnada (ITA)
Pieter Serry (BEL)