Die Strecke der Tour de France 2021 ist nicht ideal für Kletterer Emanuel Buchmann. Deshalb wählte er den Giro d’Italia als Saisonziel Nummer 1 für diese Saison. Seit dem Winter bereitete sich Buchmann auf den Giro vor – mehrere Höhentrainingslager, Stunden auf dem Rad, voller Fokus. Beim Giro lief es dann gut, er fühlte sich nach zwei Wochen noch halbwegs frisch und war bereit und voller Zuversicht für die entscheidende dritte Woche. doch bevor es in die Berge ging kam er zu Fall. Sturz, aus, Ende.
Nun fasst Buchmann direkt ein neues Ziel – doch die Tour de France. Nach der langen Vorbereitung auf den Giro, dem Sturz und der kurzen Regeneration geht es nun direkt wieder in Trainingslager. Wieder Vollgas., ans Limit. „Das ist sicher nicht der leichte Weg, den Emanuel geht“, sagt Trainer Dan Lorang. „Einfacher wäre es gewesen, rauszunehmen und dann für Olympia neu aufzubauen“.
Doch Buchmann will gern bei der Tour starten. Verständlich. Er will sich endlich belohnen, für die viele Arbeit, braucht ein Erfolgserlebnis. Schaut man auf die letzten 14 Monate, wird Buchmanns Gedanke noch leichter nachvollziehbar. Denn nach der Corona-Pause und der guten Vorbereitung auf die Tour 2020 kam dann der Sturz bei der Dauphine. Bitter, vielleicht sogar mehr. Nun der Giro 2021, eine ähnliche Geschichte.
Kein Kapitän
Nach der Tour-Absage von Lennard Kämna wurde im Tour-Kader von Bora-hansgrohe ohnehin ein Platz frei. Buchmanns Rolle wird aber eine andere sein, als er zuletzt hatte. Er ist nicht der klare GC-Leader, wie etwa beim Giro. Das liegt zum einen daran, dass man gar nicht genau abschätzen kann, welches Leistungsvermögen er abrufen kann, aber eben auch an den Zielen des Teams. „Natürlich ist es Emanuel klar, was seine Rolle ist“, sagt Lorang deutlich.
Wilco Kelderman ist Kapitän und soll versuchen in der Gesamtwertung weit vorn zu landen. Buchmann kann auf Etappenjagd gehen, oder vielleicht noch eher die Rolle des Edel-Helfers bekommen. „Bei Emanuel und Wilco passt das sehr, sehr gut zusammen. Ein Erfolgserlebnis im Radsport ist nicht nur an den eigenen Erfolg geknüpft. Wenn man einen Teamkollegen dabei helfen kann, dass dieser seine Ziele erreicht, ist das durchaus ein Erfolgserlebnis“, so Lorang.
Gut für Kelderman
Auch für Kelderman ist es kein Nachteil, dass Buchmann dabei ist. Zum einen verteilt sich der Druck, zum anderen hat er einen starken Helfer. Dazu ist man taktisch im Vorteil.
Ehe Buchmann sich in Ausreißergruppen oder als Berg-Helfer in Szene setzten kann, hat der Tour-Tross schon eine schwere und knifflige Woche hinter sich. Da kann viel passieren. Buchmanns Plan wäre also, möglichst sturzfrei und ohne großen Zeitverlust durch die erste Woche zu kommen, damit er in den Alpen und später dann in den Pyrenäen helfen oder angreifen kann. Sofern die Kraft dann noch reicht – immerhin ist es für ihn bis dahin eine lange Saison, nur mit der Pause nach dem Sturz unterbrochen.
Sollte Kelderman in der ersten Woche einen Defekt im ungünstigen Moment erleiden, oder stürzen, oder krank werden, oder …. Buchmann wäre zudem eine zusätzliche Option für die Gesamtwertung – solange die Kraft reicht.
Droht die nächste Enttäuschung?
Dieser Planwechsel birgt natürlich auch Risiken. Wird Buchmann rechtzeitig 100% fit? Läuft es zunächst gut, geht ihm dann aber Saft aus, wird das vielleicht doch kein schönes Erlebnis. Droht eventuell die nächste Enttäuschung, wenn es wieder irgendwie schief läuft? Im Sport ist es eben nicht vorhersehbar oder komplett planbar.
Zudem löst Buchmanns Nominierung medial einiges aus. Die ARD wird verzückt sein, beschert Buchmann doch gute Quoten und ist stets ein gern beackertes Themengebiet. Vermutlich wird abseits des Fachpublikums die Rolle Buchmanns bei der Tour nicht im großen Zusammenhang gesehen. Ein Satz wie „klar werde ich versuchen auch im GC keine Zeit zu verlieren“ deutet sicher manch Fan gern als Ansage im Kampf um das Podium. Wie Radsport in den deutschen Massenmedien funktioniert, müssen wir an dieser Stelle nicht neu diskutieren.
An dem Punkt muss die Mannschaftsleitung gut moderieren, damit das Gefüge nicht ins Wanken gerät. Allerdings hat man mit Wilco Kelderman und Patrick Konrad zwei Fahrer, die sehr viel Erfahrung mitbringen und bei denen man sich schwer vorstellen kann, dass sie sich von außen so beeinflussen lassen, dass es intern zu negativen Rivalitäten kommt. Dennoch sollte man diesen Punkt nicht unterschätzen.
Fazit
Buchmanns Start bringt Aufmerksamkeit – das ist die Währung im Radsport, mit der ein Team die Sponsorengelder aufwiegt. Dieser Punkt spricht eindeutig dafür. Aber aus Teamsicht gibt es noch mehr positive Seiten an Buchmanns Tourstart. Seinen Willen zu unterstützen ist dabei mehr, als nur dem Leader den Rücken zu stärken. Man unterstützt den Kapitän in schwierigen Momenten, hält dabei aber an der Leader-Rolle von Kelderman fest. Durch den Ausfall von Kämna ging zudem ohnehin eine Lücke auf.
Dennoch bleibt die Frage offen, wie stark Buchmann wirklich sein kann. Ein Etappensieg bei der Tour wäre ein Riesenergebnis – aber nimmt man ganz sicher nicht im Vorbeifahren mit. Mit der öffentlichen Anspruchshaltung muss Buchmann umgehen können und das Team muss auf das Team-Gefüge achten.
Und verändert Buchmann mal seine taktische Fahrweise – geht er offensiv in Gruppen, greift an, wird eingeholt, verzockt sich, probiert es mit der Brechstange – all das können wertvolle Erfahrungen für die Zukunft sein.
Die Vorteile eines Starts scheinen zu überwiegen. Nur die Tour ist die Tour – das wichtigste Event des Jahres, aber unberechenbar mit einem kniffligen Parcours. Im Nachhinein ist man immer schlauer, so auch diesmal.