Solch ein Finale, wie das am dritten Tag der Tour de France 2021, will (hoffentlich) niemand gern sehen. Klar, Stürze gehören zum Spektakel der Tour, aber es geht um die Gesundheit der Fahrer und auch um einen fairen Wettkampf. Es dürfte doch im Interesse aller Beteiligten sein, dass die Stärke des Fahrers über den Sieg entscheidet, und nicht das (Sturz)Glück im Finale der Sprintetappen in der ersten Woche. „Wir können so nicht weitermachen. Heute werden Kinder, Väter, Mütter zuschauen und sie werden nicht wollen, dass ihre Kinder diesen Sport machen. Wir müssen das ändern, weil wir das nicht so weitermachen können”, so Groupama-FDJ-Teamboss Marc Madiot. Das Thema ist komplexer, als man auf den ersten Blick annimmt.

Das sich die Fahrer hinterher über die Streckenführung beschwerten, ist nachvollziehbar. Doch alle Teams kannten den Parcours und im Vorfeld gab es wenig Protest. Zwar hatte man offenbar versucht, die 3-Km-Regel (demnach wird bei einem Sturz oder Defekt innerhalb der letzten 3 Km dem betroffenen Fahrer die Zeit der Gruppe gegeben, in der er sich zum Zeitpunkt des Sturzes/Defektes befand) zu erweitern – allerdings kam der Versuch wohl zu spät, heißt es aus Fahrerkreisen. Laut Jumbo-Visma Sportdirektor Frans Maassen hatte man die Jury gebeten, die Zeit für die Gesamtwertung an der 5-Km-Marke zu nehmen. Es hatten sich aber wohl bei weitem nicht alle Teams der Idee angeschlossen.

Die Idee hinter der Ausweitung der 3-Km-Regel ist klar – die Klassementfahrer wären dann nicht mehr gezwungen, aus Angst vor Stürzen ganz vorn zu fahren, sondern könnten hinten im Feld „mitrollen“. Das würde das Gedränge reduzieren und nur die Sprinter-Teams kämpften um die Positionen. Auch Simon Geschke befürwortet einen solchen Ansatz, wie er im Twitter-Tagebuch mit CyclingMagazine erklärte.

Nun gibt es auch Argumente gegen diese Ausweitung, denn so könnte sich das Gedränge im Feld einfach um ein paar Kilometer nach vorn verlagern. Ob dann alle bis fünf Kilometer vor dem Ziel hart um die Position kämpfen, oder bis drei Km vor dem Ziel, macht vielleicht keinen erheblichen Unterschied. Der Sturz von Primoz Roglic am Montag passierte deutlich vor der Fünf-Kilometer-Marke. Vielleicht wären hier 10-Kilometer wirklich die bessere Idee?

Oder man geht tatsächlich einen Schritt weiter und nimmt bei den klaren Massensprint-Etappen der ersten Woche die Zeit für die Gesamtwertung an einem zu definierenden Punkt – beispielsweise an der 10-Km-Marke. So wird es durchaus bei Rennen gehandhabt, wenn die äußeren Bedingungen das Rennen gefährlich machen. Beispielsweise auch beim Giro d’Italia 2021, als es stark regnete und die Straße enorm glatt war.

Die ganze Geschichte legt aber wieder eines der großen Probleme des Radsports offen: Es fehlt an Einigkeit. Teams und Fahrer schreien nach mehr Sicherheit, entdecken sie bei der Streckenbesichtigung gefährliche Stellen, behalten sie diese aber für sich. Im Nachhinein gibt es den Aufschrei, wenn etwas passiert. Siehe Dauphine 2020. Warum nicht vorher, wenn alle wissen, dass es gefährlich ist? Radsport ist komplex und sowohl die Vorbereitung, als auch das Fahrerkönnen sind mitentscheidend über den Erfolg. Hier ist der Radsport nicht schwarz oder weiß. Hierbei jegliche Schuld auf den Veranstalter zu schieben, greift zu kurz, sagt Madiot. „Es ist nicht die Schuld des Streckenveranstalters, sondern die von allen: die Organisatoren, die Teams, die Fahrer, die internationalen Verbände“.

Die Tour wird gefährlich bleiben, denn es ist das wichtigste Radrennen des Jahres und die Motivation und der Erfolgsdruck sind enorm, die Abfahrten bleiben eh gefährlich … Aber aus den schwierigen Sprint-Etappen zum Auftakt etwas die Hektik zu nehmen, würde der Tour vielleicht gut tun, auch was den Kampf um Gelb betrifft. Egal wo man ansetzen will, ob Ausweitung der 3-Km-Regel oder direkt die Zeit für die Gesamtwertung einige Km vor dem Ziel nehmen – es braucht den Willen aller beteiligten Parteien zur Zusammenarbeit. Genau daran mangelte es in der Vergangenheit viel zu oft.


Dazu empfohlen sei der Podcast mit Paul Martens, der die gesamte Thematik (und noch mehr) im Dezember 2020 sehr klug und reflektiert beleuchtete: