Der Stärkste behält das Regenbogen-Trikot
Nach dem Rennen der Männer gibt es keine Zweifel daran, dass der stärkste Fahrer verdient den Sieg holte. Mehrfach attackierte Julian Alaphilippe und bei seinem letzten Angriff war niemand in der Lage mitzufahren. Er zog durch und holt den zweiten WM-Sieg in Folge. Beeindruckend, was der Franzose in Leuven für ein Rennen bot! Nun darf er ein weiteres Jahr im Regenbogentrikot genießen.
Die Belgier – stark, aber nicht fehlerfrei
Ob, hätte, wenn – all das bringt nach einer WM wenig. Das belgische Team war am Sonntag in der Favoritenrolle und nahm das Rennen genau so an. Früh in die Offensive, das Rennen bestimmen und die taktischen Optionen optimal ausspielen – dieser Plan wurde zunächst sehr gut umgesetzt. Am Ende musste man sich dennoch geschlagen geben und verpasste unglücklich eine Medaille.
Wout van Aert, der Leader der Belgier sah zwei Gründe, warum es nicht für den Titel reichte: „Alaphilippe war viel stärker als alle anderen und ich war nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte“, so Van Aert nach dem Rennen. Dass gegen Alaphilippe wenig möglich war, an diesem Tag, scheint außer Frage. Doch im Kampf um die Medaillen machten die Belgier kleine Fehler.
Zum einen fuhr Evenepoel lange extrem hart an der Spitze der 17er-Favoritengruppe, obwohl mehrere Nationen auch mehrfach vertreten waren und die Verfolger bereits mehr als eine Minute zurück. Klar, an Evenepoel sind die Äußerungen der Experten in den Tagen vor der WM, er könne sich vielleicht nicht unterordnen und wolle seine eigenen Interessen voranstellen, nicht spurlos vorbeigegangen. Dass er da zeigen will, dass er ein Teamplayer ist und sich voll aufopfert, ist mehr als verständlich. Es wäre allerdings an der Stelle im Rennen taktisch vielleicht besser gewesen, ein paar Körner übrig zu lassen und auch die Konkurrenz mehr in die Pflicht zu nehmen. Dann hätte er später vielleicht noch Hilfe für Stuyven und Van Aert leisten können.
Ob Wout van Aert hätte Jasper Stuyven früher sagen sollen, dass er keine „Diamantenbeine“ hat, lässt sich schwer einschätzen. So wie Stuyven auf den Schlussrunden agierte, deutet es eher weniger darauf hin, dass dies eine große Rolle spielte. Es scheint eher so, als habe sich Stuyven im Sprint selbst um die Medaille gebracht. Er wählte in der 4er-Gruppe mit Powless, Van Baarle und Valgren im Sprint die zweite Position – hinter Powless. Für einen Sprint in dieser Gruppe sicher nicht die Beste Option. Van Baarle machte es geschickt, blieb hinten und nutzte den Windschatten von Valgren. Klar, nach fast 270 harten Kilometern ist ein Sprint etwas ganz anderes, als nach einem kurzen Rennen – aber von vorn hätte er die Chance gehabt, lange zu warten und dann seine Schnelligkeit auszuspielen und von ganz hinten hätte … hätte, hätte. Belgien verpasst knapp die Medaille. Vor allem für Stuyven, der aus Leuven stammt, ist Rang vier extrem bitter.
Das deutsche Team – Licht und auch Schatten
Das ganz große Highlight aus deutscher Sicht war der Sieg im Mixed Relay. Eine großartige Leistung der beiden Zeitfahr-Teams, die am Ende mit Gold belohnt wurde. Vor allem die Frauen lieferten ein extrem starkes Rennen. Dass man mit dem Regenbogentrikot den Abschied von Tony Martin feierten konnte, für den die Mixed-Staffel das allerletzte Rennen seiner Karriere war, machte die Geschichte perfekt.
Sonst war es eher eine durchwachsene WM für die deutsche Delegation. Dabei sorgten die Juniorinnen Linda Riedmann (Straßenrennen) und Antonia Niedermaier (Zeitfahren) mit tollen Rennen für zwei Bronzemedaillen. Bei den U23-Herren lief nicht alles glatt, aber sie zeigten ein solides Rennen, auch wenn beispielsweise Niklas Märkl enttäuscht war. Die Junioren agierten vor allem mit Luis-Joe Lührs offensiv, bei dem sogar noch mehr drin gewesen wäre, als Rang 10.
Das Frauenteam war beim Straßenrennen arg gebeutelt und so um alle Medaillen-Chancen gebracht. Mieke Kröger fiel erkrankt aus und wurde durch Lea Lin Teutenberg ersetzt, die ihre Aufgaben laut Lisa Brennauer gut meisterte. Der Ausfall von Liane Lippert, die mit EM-Silber im Gepäck und in herausragender Form angereist war, konnte nicht kompensiert werden. Lippert musste im Rennen schnell erkennen, dass sie gesundheitlich angeschlagen keine Rolle spielen kann. Lisa Brennauer und Franziska Koch waren in der entscheidenden Gruppe dabei, mehr als Rang neun für Brennauer war am Ende nicht drin, auch wenn man sich trotz der Ausfälle und der taktischen Umstellung gut verkaufte.
Auch beim Männer-Team lief es im Straßenrennen nicht wie gewünscht. Zwar fuhr Nils Politt offensiv und wurde am Ende 16., doch der Rennplan ging insgesamt nicht auf. Maximilian Schachmann und John Degenkolb stürzten und waren so früh aus dem Rennen. Georg Zimmermann setzte eine Attacke, war dann aber im Schlussdrittel des Rennens nicht mehr vorn dabei. Der Plan mit Pascal Ackermann als Sprint-Option ging nicht auf, weil es das erwartet schwere Rennen war, bei dem Ackermann früh den Anschluss verlor. Roadcaptain Nikias Arndt wäre auch gern länger in der Favoritengruppe dabei gewesen, doch nach Politts Attacke rund 90 Kilometer vor dem Ziel war es auch für den DSM-Profi schwer und Politt dann doch schnell auf sich allein gestellt. Die Top20 Platzierung rettet ein wenig die Herren-Bilanz, zufrieden wird man damit jedoch nicht sein können.
Eine großartige WM
Egal mit welchem Fahrer man nach dem Rennen sprach – alle waren von der Stimmung begeistert. Auch die Streckenführung, die Organisation und das Miteinander der Fans war beeindruckend. Nach der langen Corona-Zeit war es wieder ein großes Radsportfest, wie es sich Fahrer und Fans verdient hatten. Nikias Arndt lachte los, als er im Ziel nach der Stimmung gefragt wurde – denn selbst mit „mega“ und „Wahnsinn“ war es schwer zu beschreiben, was in Leuven los war. „Es war toll, wieder so gefeiert zu werden“, sagte Arndt.
Michael Valgren sorgte für einen Schmunzler auf der Pressekonferenz, als er versuchte das Empfinden der Lautstärke auf dem Stadtkurs in einer Geste zu verdeutlichen. Selbst gestandene Profis, die viel erlebt haben, setzten Stimmung & Lautstärke auf eine Ebene mit dem Tourstart in Harrogate 2014, was bislang in Sachen Fanlautstärke als Benchmark galt. Auch die Stimmung in der Stadt am Samstagabend fühlte sich ein wenig nach Dankbarkeit an, dass man den Radsport endlich wieder feiern kann.
Die Strecke mitten durch die Stadt war für die Fans großartig und das größtenteils freundliche Ordner-Personal strahlte an vielen Stellen Ruhe aus. Klar, in Belgien ist man Radrennen gewohnt.
Auch das Strecken-Konzept mit zwei unterschiedlichen Circuits, die mehrfach gefahren wurden, ging auf. So baute man mit der Moskesstraat einen typischen belgischen Pflasteranstieg ein und entzerrte auch ein wenige die Zuschauermassen. Denn viel mehr Menschen hätten in Leuven an der Strecke wohl kaum Platz gehabt. Auch für das Rennen der Männer war der Flandrien Circuit renntaktisch eine zusätzliche Ebene.
Es war insgesamt eine großartige Weltmeisterschaft, der man am Ende trotz der Corona-Maßnahmen bescheinigen kann: Typisch Belgien, das Epizentrum des Radsports.
Familie Bäckstedt laufen die Tränen
Es gibt Familien, da erspart man sich jede tiefere Diskussion um Genetik. Die Familie Bäckstedt ist solch eine, bei der neben körperlichen Merkmalen ganz offenbar auch Radsportleidenschaft an die Folgegenerationen weitergegeben wird. Papa Magnus, der einzige Schwede, der jemals Paris-Roubaix gewann, kann nun seinen beiden ebenfalls sehr talentierten Töchtern als Kommentator bei Radrennen zuschauen. Mama Megan (gebürtige Hughes) war britische Straßenradmeisterin und ist über jeden Zweifel in Sachen Radsportleidenschaft erhaben. Wenig verwunderlich, dass die Töchter Elynor (19) und Zoe (17) mit reichlich Talent ausgestattet ihren Weg auf zwei Rädern bestreiten. Elynor gewann bei Weltmeisterschaften zwei Mal Bronze im Zeitfahren der Juniorinnen und ist nun Profi beim Team Trek-Segafredo. Ihre jüngere Schwester Zoe gilt als mindestens ebenso talentiert und holte sich am Samstag im Straßenrennen den WM-Titel.
Papa Magnus, wegen seiner imposanten Erscheinung mit 1.93 m und auch als Profi meist >90Kg auch „Big Maggy“ genannt, war am Kommentatoren-Mikrofon live dabei und kommentierte wie immer gehaltvoll und souverän. Während des letzten Kilometers sagte Magnus Bäckstedt jedoch keinen Ton mehr. Man hörte ihn schwer atmen und nachdem seine Tochter jubelnd über die Linie fuhr, konnte man an seinen leisen Atemgeräuschen erkennen, wie sehr ihn das mitgenommen hat. Einige Sekunden später gefragt, ob er stolz sei, sagte er, dass er super stolz ist und ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Als er dann die Zeitlupe kommentierte, wie Zoe emotional überwältigt kurz hinter der Linie die Hand vor das Gesicht nimmt, sagt Magnus leise: „Oh, da sieht man, was ihr das bedeutet“ und seine Stimme wird beim letzten Wort zittrig und er verstummt erneut. Radsport ist so viel mehr, als Rennen und Siege – dies war ein Moment, wo man dies auch als Zuschauer spüren konnte.
Das Video, wie Magnus Bäckstedt den Sprint seiner Tochter zum Titel erlebte, war eines der WM-Videos, die sehr viel geteilt wurde.
Wondering how on earth @Maggy_PR held it together when his daughter, Zoe, was battling it out for a rainbow jersey?
Answer, he didn’t, but you have to love this reaction. Congratulations Zoe Backstedt, Junior Women’s World Champion pic.twitter.com/tUhioUo1S3
— GCN Racing (@GcnRacing) September 25, 2021