Andre Greipel

In der großen Radsport-Karriere von André Greipel gab es vor allem zwei Schlüsselmomente. Der erste war im Januar 2008. Zwar hatte der aus Rostock stammende zukünftige Top-Sprinter auch vor 2008 überwiegend kleinere Rennen im Trikot des deutschen Teams T-Mobile gewonnen. Seinen wirklichen Durchbruch feierte der „Gorilla“ jedoch erst, als sich Telekom bereits als Teamsponsor aufgrund der zahlreichen Dopingskandale zurückzog und aus der Mannschaft zwischenzeitlich Team High Road wurde. Gleich viermal durfte Greipel bei der Tour Down Under Etappensiege feiern, gewann somit die Gesamtwertung und stieg für viele komplett unerwartet in die absolute Sprinterelite auf.

Erfolgreich bei der Tour Down Under

Dennoch dauerte es bis 2011, bis Greipel, der eigentlich trotz seiner teils erstaunlichen maximalen Wattwerte nie als Sprint-Supertalent galt, das Debüt bei der Tour de France geben durfte – obwohl der Sprinter in dieser Zeit unter anderem zwei Giro- und vier Vuelta-Etappen gewann. Hoch war der Preis für das Zusammenleben in einem Team mit dem Briten Mark Cavendish, dem wohl besten Sprinter aller Zeiten. Dennoch meldete der sonst ruhige Greipel klare Leaderansprüche an. Und Cavendish reagierte so, wie man eben den Cav kennt: Sein Zitat darüber, dass der Deutsche nur „kleine, beschissene Rennen“ gewinnen kann, wird in der Geschichte des Radsports bleiben.

Greipel und Cavendish – nicht immer wurde einträchtig gejubelt

Heutzutage sind alle Konflikte zwischen den beiden beigelegt. Man schätzt sich durchaus und gratuliert gegenseitig. Doch im Sommer 2011 sah es noch anders aus. Der damals 28-jährige Greipel wechselte frisch als Hauptsprinter zum Team Omega Pharma-Lotto, die Erwartungen der belgischen Equipe waren enorm. Doch der Gorilla, der sich mit Positionskämpfen immer schwer tat, hatte gleich zwei Probleme. Zum einen hat sich sein Sprintzug um Jürgen Roelandts und den langjährigen Vertrauten Marcel Sieberg noch nicht eingespielt. Zum anderen lieferte der Teamkapitän Philippe Gilbert die beste Saison seiner Karriere ab – und Greipel musste für den Belgier oft arbeiten. Darum lief es im Frühjahr nicht so erfolgreich wie von ihm selbst und auch von der Teamleitung gewünscht.

Greipel mit seinen T-Mobile Kollegen Schmitz, Wesemann und Gilling bei Paris-Roubaix

Der Druck vor der ersten Tour-Teilnahme Greipels war daher enorm. Und dieser wurde im Laufe des Rennens immer größer, denn der erwünschte Sieg blieb lange Fehlanzeige – meist nicht wegen der fehlenden Endgeschwindigkeit, sondern aufgrund der falschen Position. Am 12. Juli 2011, vier Tage vor seinem Geburtstag, kam jedoch alles zusammen. Greipel durfte endlich vom Rad des Rivalen Cavendish lossprinten – und gewann anschließend ausgerechnet im direkten Duell mit dem Britten seine erste Tour-Etappe – der zweite Schlüsselmoment. Zwar blieb Cavendish mit gleich fünf Etappensiegen der dominierende Sprinter der Großen Schleife. Die Radsport-Welt hat aber gesehen, dass die Vormachtstellung des Manxmans nicht unantastbar ist.

Der Erfolgs-Zug

Die Radsport-Welt – und vor allem der neuseeländische Anfahrer Greg Henderson, der bemerkte, wie schnell Greipel eigentlich ist und seine Dienste für den Bau eines anständigen Sprintzuges quasi selbst anbot. Während der Gorilla bei der WM-2011 wegen der schwachen Positionierung „nur“ die Bronzemedaille holte, was aufgrund der tollen Form des Rostockers fast wie eine Enttäuschung wirkte, konnte sich Greipel ab 2012 auf die Hilfe seiner Anfahrer Sieberg, Roelandts und Henderson komplett verlassen. Weil der Top-Star Gilbert zum BMC wechselte, lag der Fokus des Lotto-Teams zudem ohnehin viel mehr auf dem Deutschen. Und die Ergebnisse ließen nicht lange sich auf warten.

Greipel, der Seriensieger bei Lotto

Bis 2016 hat Greipel jeweils mindestens eine Tour de France-Etappe gewonnen. 2012 und 2015 war er zudem bei den Sprintankünften in Frankreich allen überlegend. Doch seine Erfolge reduzierten sich nicht nur auf das wichtigste Rennen des Jahres: Greipel gewann in all den Jahren fünf zusätzliche Giro-Etappen, war immer wieder bei der beliebten Tour Down Under erfolgreich, wurde zwischen 2013 und 2016 dreimal deutscher Meister, siegte 2015 bei den Hamburger Cyclassics und ist mit insgesamt 158 Profi-Siegen der erfolgreichste deutsche Fahrer der Geschichte.

André & Siebi – nahezu unzertrennlich

Unter diesen Siegen befinden sich noch mal zwei besondere. Denn die letzten drei Jahre, die Greipel beim französischen Zweitdivisionär Arkea-Samsic sowie bei Israel Start-Up Nation verbrachte, waren für den Gorilla durch Verletzungen geprägt. Als der 39-Jährige dann in diesem Mai bei zwei kleineren spanischen Rennen für seine ersten Siege seit Januar 2019 sorgte, war das alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Greipel selbst sagt heutzutage, dass er auf dem Rad sogar zehn Watt mehr als vor zehn Jahren drückt. Doch die Siege im Mai hätten ihn nicht mehr geflasht – und der immer chaotischer werdende Positionskampf war eh nie etwas für den großen Rostocker. Zudem hätte er seiner Familie versprochen, mit 40 nicht mehr im Feld mitzufahren, zumal die Konkurrenz mit den jungen Sprintern, die ihre Kraft viel effektiver einsetzen, ohnehin enorm schwer ist.

Der letzte Sieg, Nr. 158 – Ruta del Sol 2021

Mann der Zwischenzeit

Und so wird der Sparkassen Münsterland Giro am Sonntag zum letzten Rennen der glorreichen Karriere von Greipel. Diese ist auf den ersten Blick am Rande der Megaerfolge oft unverdient im Schatten der charismatischen Sprintgegner Mark Cavendish und Marcel Kittel geblieben. Doch die Bedeutung von André Greipel für den deutschen Radsport geht weit über die unglaubliche Anzahl dessen Siege hinaus. Denn kaum einer steht so sehr für die Zwischenzeit im Radsport-Deutschland wie Greipel, der mit Team Wiesenhof und T-Mobile noch kurz die golden-dunkle Ära von Jan Ullrich und Erik Zabel erwischte.

Ausgerechnet an Figuren wie Greipel lag es, den Weg für die neue Generation um etwa Marcel Kittel und John Degenkolb vorzubereiten. Die Ausübung dieser Rolle war für den stillen Sprinter nicht einfach: Oft hat er etwa Journalisten warten lassen, ohne die von ihnen gewünschten Kommentare zu liefern. Doch die Zeiten änderten sich. Nicht nur ist Greipel im Herbst seiner Karriere generell viel offener geworden – so betreibt er unter anderem mit Trainingspartnern Nils Politt und Rick Zabel den Instagram-Account der sogenannten Kölner Trainingstiere und macht öfter im Podcast des Letzteren mit. Vielmehr ist er auch international zu einem der respektiertesten Radfahrer im Peloton geworden, weil Greipel seine Meinung offen sagt, sei es neulich der von ihm mitorganisierte Fahrerstreik für mehr Sicherheit bei der Tour de France oder deutliche Aussagen zur Antidopingproblematik.

Während der Flandern-WM kritisierte Greipel auch den Weltverband UCI, weil dieser bei U23-Rennen Fahrer aus World Tour-Teams zulässt. Und man erinnert sich natürlich auch an einen André Greipel, der sogar zu seiner besten Zeit nie davor scheute, das Feld für einen Fahrer seines Teams anzuführen. So verlässt am Sonntag nicht nur der an Siegen gemessen erfolgreichste deutsche Fahrer aller Zeiten den Profi-Radsport, sondern eine herausragende Figur, an die sich auch das internationale Peloton sicher erinnern wird.

Lange her – André Greipel als Junior bei der WM 2000 in Plouay