Marcel Kittel ist ein intelligenter, reflektierter junger Mann und einer der wenigen deutschen Radsport-Stars. Mit nur 31 Jahren beendete Kittel 2019 seine Karriere als Radprofi. In den 2010er Jahren gehörte er zu den weltbesten Sprintern, hält den deutschen Rekord für die meisten Tour-de-France-Etappensiege. Über seine Karriere, die Höhen & Tiefen und das abrupte Ende mit der Auflösung seines Vertrags bei Katusha-Alpecin, hat Kittel ein Buch geschrieben.
„Das Gespür für den Augenblick“ erzählt Kittels Radkarriere. Von den Anfängen in Thüringen, dem kometenhaften Aufstieg, den großen Erfolgen, aber auch den Rückschlägen. Wer Kittels Karriere verfolgt hat, kennt viele der Geschichten bereits – wie er etwa vom Zeitfahrer zum Sprinter wurde, in seiner sensationellen Debüt-Saison Geschichte schrieb, oder sein Engagement im Anti-Doping-Kampf.
Kittel spricht im Buch auch die Rückschlage an, die massiven mentalen Probleme, die er während seiner Karriere hatte. Sehr ausführlich schildert er die Erlebnisse aus dem Jahr 2015, als er nach einer Erkrankung mit dem Epstein Barr Virus in ein psychisches und physisches Tief rutschte und lange keine Rennen bestreiten konnte. Er beschreibt die „Depressive Episode“ eindrücklich und berichtet dabei auch offen von Angstzuständen, bei denen er aus Furcht „vor einer dunklen Gestalt in meinem Zimmer (…) das Licht brennen“ ließ. Er gewährt den Leser:innen einen Einblick in die dunkle Seite seiner erfolgreichen Karriere.
Auszüge aus Dialogen mit einer Sportpsychologin und aus seinem Tagebuch geben einen kleinen Einblick in das Seelenleben des damaligen Hochleistungssportlers. Kittel spricht sich auch im Buch dafür aus, dass mentale Probleme von Sportlern kein Tabuthema sein sollen.
Abrechnung
Kittel geht hart mit seinen damaligen Teamchefs Iwan Spekenbrink und Rudi Kemna ins Gericht. „Ich hätte mir mehr Entgegenkommen gewünscht, Kemna und Spekenbrink hätten spüren müssen, dass sie ihren Siegfahrer auszehrten“, schreibt Kittel und wirft ihnen zudem Charakterlosigkeit vor. Was Kittel über die Trennung vom Team Giant-Alpecin schreibt, klingt fast wie eine Abrechnung mit der damaligen Teamleitung. Ungewöhnlich, für den reflektierten und sonst eher milden und einfühlsamen Marcel Kittel.
Das Buch beschreibt Kittels Sicht auf seine Karriere, seine Ansichten und seine Gefühle – was die mentalen Probleme betrifft – offen und ausführlich. Er berichtet beispielsweise von der befreienden Wirkung, weinen zu können, als es ihm mental nicht gut ging. Kittel beschreibt aber auch die Zeit der großen Erfolge ausführlich und erklärt, wie wichtig Teamwork und Vertrauen für ihn gewesen sind, um erfolgreich zu sein.
Im Buch wird größtenteils chronologisch Kittels Radsport-Geschichte erzählt und so kann der Leser die Achterbahnfahrt gut nachvollziehen. Nach dem Hoch der ersten Jahre folgte das Tief 2015 mit der Trennung von Giant-Alpecin und dem Wechsel zum QuickStep. Kittel wurde bei QuickStep zum besten Sprinter der Welt, verließ dann aber nach zwei Jahren das Team, in dem er so erfolgreich war. Auch, um einem teaminternen Duell mit Sprintkollege Fernando Gaviria aus dem Weg zu gehen.
Bei Katusha-Alpecin lief dann fast alles schief, was schief laufen kann und man trennte sich nach eineinhalb Jahren. „Katusha & Kittel – Das Ende eines Missverständnisses“ hieß der Artikel hier beim CyclingMagazine zur Trennung. Den Prozess des Scheiterns der Beziehung zwischen Sprinter und Team Katusha-Alpecin beschreibt Kittel im Buch ausführlich – aus seiner Sicht. Das Team habe ihn als Mensch und Sportler nicht verstanden – die letzten drei Kapitel des Buches lesen sich beinahe wie eine Rechtfertigung des Karriereendes, als logische Konsequenz einer gescheiterten Team-Fahrer-Beziehung. Der Meinung von Kittels Vater, sein Sohn wäre immer noch Profi, wäre er bei QuickStep geblieben, werden sicher einige Fans auch nach Lesen des Buches zustimmen.
Dieses Buch beschreibt die ungewöhnliche Karriere eines der besten Sprinter aller Zeiten. Es ist vor allem für ein breites Publikum abseits der fachkundigen Radsportfans gemacht. Das scheinen auch die kleinen Erklärtexte zu belegen, wo es mal um den Giro, oder den Effekt von Höhentrainingslagern oder die (ehemalige) Radsportlerhochburg Girona geht – was den meisten Radsportfans sicher geläufig ist.
Die 320 Seiten lesen sich sehr gut weg, auch wenn Kittels Humor und seine typische Art in dem geschliffenen Text nicht wiederzufinden sind. Das Buch erzählt Kittels Geschichte, ist dabei auch eine Art Plädoyer, hinter dem Athleten stets auch den Menschen zu betrachten und Sportler nicht als Maschinen zu sehen.
Das Buch hat 320 Seiten und ist im Malik Verlag (gehört zu Piper) erschienen.