Thesen für 2021 auf dem Prüfstand: Lag Denis Trubetskoy mit seinen #Saisonthesen richtig?

These 1 | Training wichtiger als Vorbereitungsrennen?

Bis auf wenige Ausnahmen galt dies in Vergangenheit als klare Regel: Um sich gut auf eine Grand Tour vorzubereiten, muss man vorher doch reichlich Rennkilometer gesammelt haben. Ohne die nötige Rennhärte geht es etwa bei einer Tour de France nicht. Doch die Tour 2020 gehörte trotz der langen Corona-bedingten Pause zu den schnellsten dreiwöchigen Rundfahrten im modernen Radsport. Es zeigte sich eine beeindruckende Leistunsgdichte. Dabei war das zu erwartende sportliche Niveau aufgrund der ungewöhnlichen Umstände ursprünglich ein Riesenrätsel.

Diese Erkenntnis könnte große Auswirkungen auf die Vorbereitung der Klassementfahrer haben, was unter anderem Bora-Trainer Dan Lorang während eines Instagram-Livestreams mit Cyclingmagazine.de andeutete. Es ist zwar noch nicht davon auszugehen, dass die Favoriten eine Teilnahme an Paris-Nizza gegen einen Höhentrainingslager tauschen. Dennoch werden sich die Roglics dieser Welt wohl noch zielorientierter auf die Höhepunkte der Saison vorbereiten.

Überprüfung

  • Zwar sind zwei Saisons (eine durch Corona verkürzte & nun die vollständige 2021er Saison) ein viel zu kurzer Zeitraum, um weitreichende Schlussfolgerungen zu ziehen. Dennoch ist es höchstwahrscheinlich kein Zufall, dass die beiden Superstars Tadej Pogacar und Primoz Roglic beide auf die meisten Rennen nach den Ardennenklassiker und vor der Tour de France verzichteten. Lediglich Pogacar fuhr im Juni noch die Slowenien-Rundfahrt, was allerdings wohl nicht nur sportliche Gründe hatte. Das Ergebnis fiel eindeutig: Der amtierende Toursieger verteidigte seinen Titel souverän, während Roglic trotz seines gesundheitsbedingten Ausstieges nach der ersten Woche einen eindrucksvollen Sieg im Olympia-Zeitfahren feierte, und dann noch anschließend die Vuelta gewann. All das lässt die Frage offen, ob wir die absoluten Topstars in den nächsten Jahren bei den wichtigsten Vorbereitungsrennen wie die Criterium du Dauphine noch erleben werden. 

These 2 | Nicht vorverurteilen, aber kritisch & differenziert beobachten

Tadej Pogacars Einzelzeitfahren bei der Tour de France machte selbst seine Fans sprachlos und erinnerte viele bestimmt an dunkle Zeiten des Radsports. Phänomenale Leistungen von weiteren jungen Fahrern wie Marc Hirschi, Jai Hindley oder Joao Almeida machen zwar Hoffnungen auf spektakuläre Rennen in der Zukunft. Doch tatsächlich gibt es auch berechtigte Sorgen. Denn dass Geschwindigkeiten im Radsport wieder wachsen, haben wir nicht erst bei der letztjährigen Tour festgestellt.

Hier wäre es wichtig, weder sonderlich optimistisch noch zu pessimistisch zu sein. Wer an die Sauberkeit der gesamten jungen Generation glaubt, ist womöglich naiv. Gleichzeitig ist es nur logisch, dass beim viel besseren Scouting sowie beim Riesensprung in Sachen Nachwuchsförderung die Leistungen steigen. Es gibt anders als vor 15 Jahren genug Gründe, niemanden mit Vorurteilen abzustempeln. Es gilt aber auch, aufmerksam und kritisch zu bleiben.

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  • Es ist nicht nur der Toursieger Todaj Pogacar, dessen Leistungen in der vergangenen Saison staunen ließen. Mit 30 qualitativ hochkarätigen Siegen, darunter drei Etappensiegen bei der Tour de France, Paris-Roubaix oder dem völlig unerwarteten zweiten Platz in der Giro-Gesamtwertung durch Damiano Caruso sorgte das Team Bahrain-Victorious für zahlreiche Überraschungen. Zudem sorgten eine Polizei-Razzia während der Tour sowie die Spekulationen über die Nutzung des Muskelrelaxantiens Tizanidin für die Schlagzeilen weit außerhalb der sportlichen Ergebnisse. Es ist gut, dass auf die ungewöhnliche und oft unerklärliche Leistungssteigerung innerhalb einer Saison kritisch hingeschaut wird. Gerade im Fall Pogacar gibt es aber im Moment überhaupt keine ernsthaften Hinweise, die ihn persönlich und nicht die Vergangenheit einiger Personen aus seiner Teamführung belasten würden. Auch das müsste sowohl im Rahmen der Berichterstattung als auch bei der einfachen Beobachtung berücksichtigt werden, was gerade in den deutschen Medien nicht immer der Fall ist.

These 3 | Fahrer brauchen mehr Menschlichkeit in Teams

Die Strukturen der WorldTour-Teams werden immer professioneller. Es wird immer mehr auf reine Daten und Taktik geschaut, um die Ziele der Mannschaft knallhart im Rennen umzusetzen. Dabei wird der menschliche Aspekt oft übersehen. Natürlich sind die Fahrer Profis, die genau dafür bezahlt werden, dass sie für ihre Teams buchstäblich arbeiten. Dennoch ist es kaum ein Zufall, dass mit dem Schweizer Supertalent Marc Hirschi ein weiterer Top-Fahrer das Team DSM verlässt – eben das Team, welches mit seinem überprofessionellen Ansatz ständig Schlagzeilen schreibt.

Die Kritik von Wilco Kelderman an dem Umgang seiner Mannschaft während des Giro spricht ohnehin für sich. Der moderne Radsport muss kein Ponyhof sein. Trotzdem ist es oft schwieriger, große Ziele trotz bester Wattmessungen zu erreichen, wenn das interne Klima nicht stimmt. Darauf sollten die Teams 2021 größeren Wert legen.

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  • Das scheint weiterhin ein großes Problem zu sein, was wiederum die weiteren vorzeitigen Abgänge beim Team DSM, wie etwa die Vertragsauflösung von Tiesj Benoot und der Fall von Ilan van Wilder zeigen. Andererseits gibt es bei Spitzenteams wie Jumbo-Visma auch eindeutige Lichtblicke: Die Art und Weise, wie die niederländische Mannschaft mit der Karrierepause von Tom Dumoulin umgegangen ist, gilt nicht umsonst als vorbildhaft – und auch sonst erweckt Jumbo-Visma den Eindruck, als würde das Team sich um die mentale Gesundheit seiner Fahrer besonders kümmern. Der von Marcel Kittel in seinem neuesten Buch geforderte Wandel bei solchen Fragen ist daher durchaus sichtbar, auch wenn dieser wohl noch zu langsam ist.

These 4 | Bora-hansgrohe wird für 2020 belohnt

Nein, Emanuel Buchmann muss nicht unbedingt den Giro gewinnen, sollte er diesen letztlich fahren. Und auch drei Tour-Etappensiege von Pascal Ackermann kann man sicher nicht im Januar voraussagen. Es ist dennoch bemerkenswert, wie viel Pech Bora-hansgrohe im letzten Jahr hatte. Dabei war etwa Buchmann kurz vor seinem Sturz in hervorragender Form. Auch Maximilian Schmachmann und Lennard Kämna überzeugten vor der Großen Schleife, bis sie ebenfalls gesundheitlich gefährdet wurden.

Das deutsche Team versuchte anschließend, das zu retten, was es zu retten gab – mit mäßigem Erfolg. Dafür lieferte Bora-hansgrohe gerade bei der Tour, aber auch beim Giro eine erstklassige Show, die jedenfalls in Erinnerung bleibt. 2021 muss es nicht an allen Stellen perfekt laufen. Doch viel besser als im vorigen Jahr kann man sich auf die Höhepunkte eigentlich nicht vorbereiten. Sollte Bora diesmal alles ähnlich im Griff haben, kommen die Erfolge quasi automatisch – egal, wie die Zusammensetzung des Teams bei unterschiedlichen Rennen im Endeffekt aussieht.

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  • Im Sport lässt sich der Erfolg auch dann nicht vorprogrammieren, wenn die Zeichen besonders gut stehen. Trotz 30 Saisonsiegen dürfte das Team um Manager Ralph Denk mit der Saison nicht komplett zufrieden sein. Dass Emmanuel Buchmann trotz ansteigender Form und guter Aussichten auf das Podium beim Giro aussteigen musste, war sicher eine Enttäuschung, wie ebenfalls das durchwachsene Jahr des Sprinters Pascal Ackermann, der die Mannschaft Richtung UAE verlässt. Auch die mentalen Probleme des Tour-Etappensiegers von 2020 Lennard Kämna haben die Karten gemischt. Andererseits gewann Maximilian Schachmann wieder Paris-Nizza, Bora-hansgrohe feierte bei der Tour zwei Siege sowie den starken fünften Gesamtrang durch Wilco Kelderman und nicht zuletzt war der Sieg von Nils Politt ausgerechnet bei der Deutschland Tour für das Management bedeutend.
    Von einem missglückten Jahr kann daher keine Rede sein. Wie es aber 2022 für das deutsche Team aussieht, lässt sich noch schwerer prognostizierten. Denn der Umbruch sowohl beim Fahrerpersonal (allein der Wechsel von Peter Sagan ist bezeichnend) als auch in der sportlichen Leitung ist derart enorm, dass sich die neue Version von Bora-hansgrohe erst einmal wieder einspielen muss. Die große Veränderung ist aber wohl in der Tat auch das Ergebnis der komplizierten Jahre 2020 und 2021, obwohl die meisten Misserfolge kaum sportlichen Hintergrund hatten.

These 5 | Ineos Grenadiers & Jumbo-Visma liefern endlich den Schlagabtausch bei der Tour

2020 rannte Ineos noch der niederländischen Jumbo-Visma-Equipe rund um Primoz Roglic hinterher, während mit Tadej Pogacar der lachende Dritte die Tour gewann. 2021 wird es trotzdem zum Duell der beiden aktuell besten Rundfahrt-Teams kommen, obwohl die zeitfahrlastige Strecke sicher nicht allen potenziellen Kapitänen des Ineos-Teams gefällt. Eine noch spannendere Tour ist sehr wahrscheinlich, und dafür braucht man nicht immer den allerschwersten Parcours.

  • Obwohl Jumbo Visma und Ineos Grenadiers den zweiten und den dritten Gesamtrang bei der Tour belegten, war die Frankreich-Rundfahrt von einem Schlagabtausch der beiden Teams weit entfernt. Und während das niederländische Team nach vielen Ausfällen inklusive Kapitän Primoz Roglic das Maximum für sich herausfuhr, galt für viele die Performance der britischen Mannschaft als eine Art Enttäuschung. Nicht ganz zu Recht: Die Saison 2021 zeigte, dass die Dominanz von Sky/Ineos trotz des Giro-Sieges durch Egan Bernal objektiv gesehen vorbei ist. Dass Ineos es trotzdem auf das Tour-Podium schaffte, darf nicht unterschätzt werden. Zudem laufen im Team wichtige und spannende Verjüngungsprozesse, und gerade bei den einwöchigen Rundfahrten war das Team extrem erfolgreich. Allerdings ist es schwer vorstellbar, dass die Spitzenfahrer im nächsten Jahr bei der Tour auf Augenhöhe mit Pogacar und Roglic konkurrieren können.