Team DSM: Blick nach vorn, auf der Großbaustelle

Beim Team DSM will man das Jahr 2021 schnell hinter sich lassen und nach vorn schauen. Es gibt viel Arbeit, auf der niederländischen Großbaustelle.

Team DSM 2022

Das Team DSM hat am Donnerstag den Kader für die Saison 2022 präsentiert. Wie immer opulent inszeniert fand die Präsentation in diesem Jahr ohne Publikum und Presse statt, wurde aber live übertragen. Die Trikots sind sehr ähnlich denen der aktuellen Saison. Das dreiteilige Gesamtkonzept bleibt bestehen – es gibt weiterhin das Development Team, die Frauenmannschaft und das Männerprogramm.
Teamchef Iwan Spekenbrink ist es erneut gelungen, neue Partner zu gewinnen. Kommunikationsunternehmen Yourfone und Optikerkette Eyes+More sind nun sehr präsent auf den neuen Teamklamotten von Partner Nalini. Satte sechs Partner hat man neben DSM und dem UCI-Logo auf der Vorderseite des Trikots untergebracht. Eher dezent, das Jersey wirkt es nicht wie ein italienisches Conti-Trikot aus den 90ern.

Männerprobleme

Mit Nachwuchsabteilung und Frauenteam ist man mehr als im Soll. Mit Tim Naberman, Marius Mayrhofer, Leon Heinschke und Henri Vandenabeele schafften gleich vier Fahrer den Sprung aus dem eigenen Nachwuchs in die World Tour. Das Frauenteam ist ebenfalls stark aufgestellt und dürfte 2022 wohl noch einen Sprung machen. Liane Lippert und Pfeiffer Georgi entwickeln sich prächtig, Lorena Wiebes hat gezeigt, warum man sie im Sommer verpflichtet hat, und Fahrerinnen wie die 21-jährige Franziska Koch haben ihr Talent mehrfach angedeutet. Mit den Niederländerinnen Elise Uijen (18) und Charlotte Kool (22), der Französin Léa Curinier (20) und der Italienerin Francesca Barale (18) hat man internationale Talente verpflichtet. Da wird man auch den Abgang von Coryn Labecki verkraften können.

Probleme hat das Team vor allem bei den Männern. Es war eine ganz schwache Saison mit vielen Problemen. Teamchef Spekenbrink gibt sich gern als Radsportvisionär und man darf ihm hoch anrechnen, welch Struktur er in den vergangenen 15 Jahren aufgebaut hat. Aus dem kleinen Skil-Shimano-Team wurde ein großes Team mit 60 Sportler*innen, großem Service Course und eigenem Nachwuchszentrum mit Wohnkomplex.

Bei der Teampräsentation am Donnerstag wurden die Probleme im Männerbereich mehrfach angesprochen. „Das ist ganz sicher nicht die Saison, auf die wir am meisten stolz sind“, sagte beispielsweise Coach Roy Curvers. Als man 2017 bei der Tour de France mehrere Etappensiege, das Bergtrikot und auch das Grüne Trikot gewann, sagte Spekenbrink am Ende des Jahres, dass man für das Niveau der Mannschaft sogar zu erfolgreich war, man das natürlich gern mitnimmt, sich aber auch auf andere Zeiten einstellt. Eine Saison wie 2021 ist dennoch enttäuschend.

Vor allem, dass die Tour de France 2021 eine Enttäuschung war, will man im Team nicht schönreden – auch nicht bei der Teampräsentation. Doch der Blick im Team geht nach vorn. Fahrer wie Ilan van Wilder und Tiesj Benoot, denen ihre Unzufriedenheit anzumerken war, sind weg. „Es gab schon Fahrer, die schlechte Stimmung verbreiteten“, sagte ein DSM-Fahrer vor wenigen Wochen, ohne Namen zu nennen. Van Wilder hat mit seiner offensiven Wechselforderung, auch via Social Media, dem Team sicher nicht geholfen. Sprach man Fahrer darauf an, bekam man mindestens Augenrollen als Antwort. Van Wilder hat sich mit seinem Verhalten auch unter Fahrern nicht nur Freunde gemacht.
Die unzufriedenen Fahrer, die auf einen Wechsel drängten, sind weg – nun soll ein neues Teamgefüge entstehen. Aufbruchstimmung soll entstehen, so wie früher, mit den jungen Wilden, die damals Degenkolb, Kittel, Barguil und Dumoulin hießen.

Schlüsselfigur Degenkolb

Nun kommt also John Degenkolb zurück ins Team. Mit all seiner Erfahrung soll er bei den Klassikern eine wichtige Rolle einnehmen, vielmehr aber dafür sorgen, dass der alte „Argos-Shimano-Spirit“ ins Jahr 2022 geholt wird und man mit dem neuen DSM-Spirit wieder erfolgreich ist. Gegenüber CyclingMagazine hat Roy Curvers ausführlich erklärt, warum Degenkolbs Rückkehr für DSM eine gute Sache ist.

Auch Degenkolb ist anzumerken, dass er die neue Aufgabe voller Motivation angeht. „Wichtig ist mir, die Kombination aus Erfahrung weitergeben und dabei nicht zu vernachlässigen, Rennen zu gewinnen“, sagte Degenkolb im Mediengespräch am Rande der Teampräsentation und spricht von einem Motivationsschub durch den Wechsel zu der Mannschaft, wo er 2015 zwei Monumente gewann.

Doch Degenkolb wird für das Team vielleicht weniger als Siegfahrer, mehr als Leader von Bedeutung sein. Er hat alles erlebt, große Siege mit einer Mannschaft gefeiert, die vor allem durch einen Teamspirit zur Macht wurde. Unvergessen, wie 60Kg-Mann Johannes Fröhlinger zum Anfahrer wurde und bei der Vuelta und anderen Rennen das Peloton an der Spitze auf den letzten Kilometer führte. Dass bei Degenkolbs Roubaix-Sieg fast die ganze Mannschaft auf dem Podium bei der Siegerehrung stand, war ganz sicher nicht bedeutungslos. Beim Team von Iwan Spekenbrink wird die Gruppe immer über die individuellen Ziele gestellt. Außergewöhnliche Fahrer sind zu außergewöhnlichen Leistungen fähig, aber nur wenn alles passt. Werden aus Struktur und professioneller Führung in der Empfindung der Stars zu enge Ketten und ein unverständliches Protokoll-Labyrinth, geht man besser getrennte Wege. Beispiele dafür gibt es einige.

Auch Degenkolb eckte während seines ersten Engagements im Team an. Doch seine Sicht hat sich verändert. Er hat einen Prozess durchgemacht, der ihm klar zeigt, was unwichtig ist und wofür es lohnt, mit aller Kraft zu kämpfen. Reibung zwischen Team und Degenkolb wird sicher wieder entstehen – das ist erwünscht, um vorwärts zu kommen.

Degenkolb hat in seiner Karriere Rückschläge wegstecken müssen, wie den schweren Unfall 2016, der lange nachwirkte, auch weil er schnell zurück ins Renngeschehen wollte. Mit dem Erfahrungsschatz von heute würde sich Degenkolb vielleicht mehr Zeit nehmen, die Sachen zu verarbeiten.
All diese Erfahrungen wird er versuchen einzubringen, bei DSM. Die Rolle des „Team-Papas“ ist neu für Degenkolb, auch wenn er bei Lotto-Soudal und auch bei der Deutschland Tour in der Nationalmannschaft junge Fahrer führte. „Ich war überrascht, wie er das gemacht hat. Wir jungen Fahrer hatten erwartet, dass er außerhalb des Rennens sein Ding macht, im Bus vielleicht am Handy hängt, oder so. Aber so war das überhaupt nicht“, berichtet Talent Jakob Geßner, der 2022 für Lotto-Kernhaus fährt und mit Degenkolb bei der D-Tour 2021 im Nationalteam fuhr.

Am Rande der Teampräsentation sagte Degenkolb, dass sich die Gesichter im Team DSM zwar verändert haben, er das Gefühl von früher aber wieder spürt. Im Kern ist der Charakter des Teams erhalten geblieben, auch deshalb sei es für ihn eine Art „nach Hause kommen“ gewesen. Dass die Mannschaft Probleme hat, ist Degenkolb natürlich nicht verborgen geblieben – dennoch hat er sich dafür entschieden zurückzukommen, auch wenn er in der World Tour andere Optionen hatte. Das kann man sicher so interpretieren, dass er sich bewusst für diese neue Rolle entschieden hat, im letzten Drittel seiner Karriere.

„Dege ist ein echter Racer, im Rennen gibt er alles, gibt nie auf, ist zudem ein echter Leader“, bekommt man als Antwort, fragt man ehemalige Teamkollegen nach Degenkolbs Qualitäten. Diese Mentalität kann extrem wertvoll sein, vor allem in Teams, die straff geführt sind – Vorbereitung ist Vorbereitung, Rennen ist Rennen – egal was vorher war.

Degenkolb berichtet, dass sein neuer Trainer Sebastian Deckert die großen Klassiker von Degenkolb analysiert hat, die Leistungswerte der vergangenen Saison genau ausgewertet hat und mit ihm bespricht. Es ist Degenkolb anzumerken, dass er Vertrauen spürt und ihm dies Sicherheit gibt, für die Aufgabe, die er im Team hat, die auch für ihn neu ist.

Degenkolb hat viel Verantwortung und könnte zur Schlüsselfigur für das „neue Team DSM“ werden. In einem so jungen Kader, wie ihn das Team DSM hat, sind alle gestandenen Fahrer enorm wichtig. RoadCaptain Nikias Arndt, Leader Romain Bardet und natürlich Degenkolb, der mit 32 Jahren der älteste Fahrer im Team ist, sind ganz besonders gefordert. Ob die Verpflichtung Degenkolbs ein Zeichen dafür ist, dass im Team ein Umdenken stattgefunden hat und man sich nun wieder etwas wegentwickelt von der strikten, bedingungslos durchoptimierten Teamführung, bleibt abzuwarten.

Dreiteiliges Männerprogmann

Das Männerteam ist bei DSM in drei Gruppen unterteilt – GC-Fahrer, Sprinter und Klassikerfraktion. Wobei gerade die Klassiker- & Sprintergruppe durchlässig sind. So ist Nico Denz zwar in der Sprintgruppe, die nun auch von Ex-Profi Marcel Sieberg als Coach betreut wird, ist dennoch für die Klassiker geplant.
Das GC-Team wird weiter von Matt Winston betreut, die Sprintergruppe hauptverantwortlich von Roy Curvers und die Klassikergruppe von Phil West. Um das Frauenteam kümmert sich als Coach weiterhin Ex-Profi Albert Timmer. Das Devo-Team betreut Bennie Lamregts.

Nach der katastrophalen Saison 2021 muss das Team DSM im neuen Jahr liefern. Man darf nicht wieder das Schlusslicht der WorldTour sein, sonst bekommt man ganz sicher Probleme, den Sponsoren ein gutes Gefühl für ihr Engagement zu geben. Potenzial steckt in der Mannschaft zweifellos, was es braucht ist Erfolg, vor allem bei den großen Rennen. Die Giro-Fraktion, die auch die Vuelta bestritt, machte 2021 vor, wie es gehen kann. Die Gruppe um Romain Bardet, Michael Storer, Chris Hamilton und Nico Denz lieferte ab und zeigte gute, offensive Rennen. So muss das auch bei der Tour und bei den Klassikern gelingen, will man 2022 wieder zur Top-Mannschaft werden.

Dass ausgerechnet Michael Storer das Team verließ, nachdem man ihn jahrelang aufgebaut hat und zum Top-Fahrer entwickelte, zeigt eines der großen Probleme des Teams – man entdeckte sein Talent früh, baute ihn auf und lässt ihn dann (leichtfertig) ziehen. Diese Geschichte, dass man talentierte Fahrer an die Weltspitze führt und dann verliert, wiederholt sich bei der Mannschaft von Iwan Spekenbrink immer wieder. Ein Kreislauf, den man vielleicht irgendwann durchbrechen muss, um kontinuierlicher erfolgreich zu sein. Dass nun einer der abgewanderten Ex-Stars wieder zurückkommt, ist neu für das Team DSM – man darf gespannt sein, wie sich die Saison 2022 entwickelt, auf der niederländischen Großbaustelle.

Teamzentrale, Teamführung und nun auch Lizenz sind ab 2022 wieder niederländisch. „DSM ist ein globales Unternehmen mit weltweiten Interessen, aber als Staatsunternehmen niederländischer Herkunft, daher ist es sinnvoll, wieder eine niederländische Lizenz zu erwerben“, heißt es vom Team, das zuletzt unter deutscher Flagge fuhr und 2022 ebensoviele (8) deutsche Fahrer hat, wie das Team Bora-hansgrohe. Auch mit niederländischer Lizenz will man weiter auch auf deutsche Talente setzen. Bezüglich der niederländischen Lizenz heißt es: „Dies berührt in keiner Weise das strategische Interesse des Teams an Deutschland“. Man wolle den „Fokus auf den deutschen Radsport verstärken und weiterhin mit hervorragenden deutschen Fahrern und Mitarbeitern zusammenarbeiten“.

In welche Richtung die langfristige Entwicklung des Teams geht, wird auch davon abhängen, ob 2022 ein echter Schritt nach vorn gelingt. Gibt es noch eine solche Katastrophensaison wird es ungemütlich, auf der Groß Dauerbaustelle.