Dass man bei Bora-hansgrohe den Blick künftig stärker auf das Gesamtklassement der großen Rundfahrten richtet, ist kein Geheimnis. Der langjährige Leader des Teams, Peter Sagan, hat das Team verlassen und verpflichtet wurden gleich mehrere hoffnungsvolle Rundfahrt-Talente – Jai Hindley, Alexandr Vlasov und Sergio Higuita. Dazu hatte man bereits reichlich Qualität im Team. Emanuel Buchmann, Felix Großschartner, Patrick Konrad, Wilco Kelderman – sie alle haben im Bora-hansgrohe-Trikot bereits Grand Tours in den Top10 beendet.

Doch das Team von Ralph Denk will in Zukunft nicht um Top10 oder Top5-Resultate kämpfen, sondern aufs Podium fahren. Mindestens. So hat die Mannschaft nun einen Umbruch eingeleitet und neue Top-Fahrer verpflichtet. Da man aktuell ohne exorbitantes Budget schwer einen potenziellen Grand-Tour-Sieger verpflichten kann, geht man den Weg der Talenteförderung. Weder Vlasov, Hindley oder Higuita sind derzeit auf Augenhöhe mit Egan Bernal, Richard Carapaz, Primoz Roglic oder Überflieger Tadej Pogacar. Erst Recht nicht Talent Cian Uijtdebroeks. Doch in ein paar Jahren, eine herausragende Entwicklung vorausgesetzt, sind sie vielleicht sogar bereit, für den Kampf um den Toursieg.

 

Planspiel

Bei Bora-hansgrohe hat man sich über den Umbruch lange Gedanken gemacht. Es wurde genau analysiert, gescoutet und dann ein Plan entworfen. Bereits im Frühjahr 2021 waren einige der Kader-Ideen fix. Es sickerte, anders als bei so manchen WorldTeams, lange nichts durch. Doch dass der Kader „eilig“ umgebaut wurde, wie manch Journalist vermutete, trifft nicht zu. So darf man ebenso davon ausgehen, dass die Ideen für die Renneinsätze und Kapitänsrollen mit den Neuzugängen klar besprochen wurden. Dennoch bleiben knifflige Entscheidungen, die getroffen werden müssen.

 

Fingerspitzengefühl gefragt

Schaut man sich den Bora-hansgrohe-Kader für 2022 an, hat man acht potenzielle Klassementfahrer: Jai Hindley, Emanuel Buchmann, Alexandr Vlasov, Felix Großschartner, Sergio Higuita, Maximilian Schachmann, Patrick Konrad und Wilco Kelderman. Diese auf die drei Grand Tours optimal zu verteilen, dabei die Rollen und Ziele von Team und Fahrer idealerweise passend übereinander zu legen, ist keine leichte Aufgabe.

Ehrgeizige Fahrer streben nach hohen Zielen und beanspruchen (zurecht) Leader-Rollen. Fahrer wachsen mit ihren Aufgaben, brauchen aber Vertrauen und Herausforderungen. Fühlt sich ein Fahrer übergangen, oder passt das Ziel des Teams nicht zu seinem persönlichen, bröckelt die Beziehung. Es ist neben einem guten Plan und guter Kommunikation immer auch Fingerspitzengefühl gefragt.

Um den Plan für die Grand-Tours zu machen, müssen eine Reihe von Fragen beantwortet werden. Wem liegt welcher Parcours? Welche Fahrer kann man in die gleiche Grand Tour schicken? Wie baut man ein Helferteam für mehrere Leader auf? Wie kann man den maximalen Erfolg erzielen? Welche Grand Tour ist für welchen Fahrer unter Berücksichtigung der Entwicklungsziele optimal? Wie beeinflusst die Nominierung die Stimmung im Team? Wie läuft welche Grand Tour ab, wenn die anderen Teams wie vermutet nominieren? Passen die anderen Ziele in der Saison gut zur optimalen Grand Tour? … Diese Liste ließe sich problemlos um weitere 10-20 Fragen erweitern.

 

Der „optimale“ Plan  

Je nach dem, wie Antworten auf die Fragen ausfallen, sieht der „optimale“ Plan jeweils unterschiedlich aus. Bora-hansgrohe hat den Team-Plan für die Grand Tours nicht veröffentlicht, und in die Köpfe von Ralph Denk, Rolf Aldag und Dan Lorang lässt sich nicht hineinschauen – aber man kann selbst Überlegungen anstellen und spekulieren. Hier folgt, ohne alle Details der Gedankenspiele auszubreiten, ein GC-Plan, der aus Überlegungen und Diskussionen entstand – sehr gern diskutieren wir diesen mit euch allen bei Twitter.

 

Buchmann zum Giro

Man kann sich der Kaderaufstellung entweder von Seiten der Fahrer, oder eben entlang der Grand Tours nähern. Wir mischen an dieser Stelle beides. Emanuel Buchmann wäre als Kapitän für den Giro d’Italia gesetzt. Das hat mehrere Gründe. Einer ist, dass die Giro-Strecke dem Kletterer liegt. Nur 26,4 Kilometer Einzelzeitfahren, schwere Berge am Ende der Rundfahrt – das ist für Buchmann ideal. Denn der 29-Jährige baut während einer Grand Tour weniger ab, als andere Fahrer.

Geht Buchmann in guter Position in die Schlusswoche, ist vieles möglich. Doch bis dahin muss man erstmal schadlos kommen. Auch das ist ein Gedanke, der für den Giro-Start spricht. Denn seit seinem 4. Platz bei der Tour 2019 hatte er mehrfach Pech, was sein Saisonhighlight betrifft. Der Crash bei der Dauphine vor der Tour 2020 und dann das Sturzpech beim Giro 2021. Im Vergleich mit der Tour ist der Giro doch etwas weniger hektisch. Dazu kommt, dass die Tour 2022 mit den windanfälligen Flachetappen in Dänemark und dem Kopfsteinpflaster-Abschnitt beginnt. Beides sicher nicht nach dem Geschmack von Buchmann.

Geht man mit Buchmann als Kapitän zum Giro, ließe sich ein herausragendes Kletterteam um den Deutschen bauen. Das bringt uns an dieser Stelle gleich zu weiteren Personal-Gedanken, die miteinander zusammenhängen und aus verschiedenen Ecken zusammen gepuzzelt sind. Der Einfachhalt halber bleiben wir an dieser Stelle nun beim Giro-Kader. Auch Wilco Kelderman ist ein potenzieller Klassementfahrer, der beim Giro bereits auf dem Podium stand. Beim Niederländer löste die Präsentation der beschriebenen ersten Woche der Tour de France sicher keine Freudentänze aus. Den erfahrenen Kletterer kann man aber beim Giro sicher gut gebrauchen, als Helfer für Buchmann. Dass Kelderman mit der Helferrolle keine Probleme hat, scheint klar. Erst recht nicht, wenn er bei der Tour dann Freiheiten bekommt. Aber dazu später mehr.

Geht man für den Giro voll auf GC, kann man mit Matteo Fabbro, Giovanni Aleotti, Ben Zwiehoff und vielleicht auch Felix Großschartner neben Buchmann und Kelderman eine super Berg-Truppe an den Start bringen, die auf manchen Etappen sicher auch um den Tagessieg kämpfen kann. (Bliebe noch Platz im Kader für einen Helfer und vielleicht sogar einen jungen Sprinter wie Matthew Walls, der noch keine Grand Tour bestritten hat.) Dabei wäre es beim Parcours des Giro sogar möglich, dass man Großschartner zunächst die Rolle des Co-Leaders gibt – für den Fall der Fälle. Schaut man dabei auf die Entwicklung von Fabbro und Talent Aleotti, könnte der Giro erneut ein wichtige Erfahrung für weitere Schritte sein. Lennard Kämna lassen wir in den Gedankenspielen vorerst außen vor – er soll nach dem schwierigen Jahr 2021 wieder Fuß fassen und kann dann hoffentlich 2022 2023 ein echter Faktor werden, vielleicht auch in Sachen GC.

 

Tour de France

Das größte Rennen des Jahres ist auch für Bora-hansgrohe extrem wichtig. Bei der Tour MUSS man liefern, den Sponsoren in Form von Aufmerksamkeit den Gegenwert für die Investition zurückzahlen. Der Kampf um das Podium der Tour de France scheint für Bora-hansgrohe derzeit unmöglich. Ineos mit Egan Bernal & Co, Jumbo-Visma mit Primoz Roglic und dazu der Überflieger Tadej Pogacar. Puh, da muss die Tour schon komisch laufen, will man diese Herren in der Gesamtwertung hinter sich lassen. So denkt man, im Sinne der Sponsoren, vor allem auch an Etappensiege. Das klappte mit Nils Politt und Patrick Konrad im Jahr 2021 ja hervorragend.

Sprinter Sam Bennett wäre auf jeden Fall für Etappensiege gut, sollte er in die Form von 2020 kommen, wo er auch das Grüne Trikot gewann. Ist er fit und in super Form, nimmt man ihn sicher mit. Schaut man auf die Strecke, wären auch Fahrer wie Patrick Konrad und Maximilian Schachmann für die hügeligen und bergigen Abschnitte heiße Kandidaten für Erfolge aus Ausreißergruppen. Konrad wird sich weiter eher auf Tagessiege und die Klassiker konzentrieren, bei Schachmann kann es in Zukunft auch in Richtung GC gehen. Auch das spricht für einen Einsatz bei der Tour de France. Die Tour ist sehr gut mit den Ardennen-Klassikern im Frühjahr kombinierbar. Dazu ist die knifflige Strecke der Tour in der ersten Woche für Klassiker-Spezialisten wie Schachmann nicht ungünstig. Klar, der Fokus bliebe auf Tagesergebnissen, aber insgeheim kann Schachmann mal testen, wie er so in Sachen GC mithalten kann.

Das gilt in ähnlicher Form auch für Jai Hindley. Der 25-Jährige stand beim Giro bereits auf dem Podium, hat aber noch keine Tour-Erfahrung. Auch die Ardennen-Klassiker kennt Hindley übrigens nicht – auch dort wäre ihm einiges zuzutrauen. Die gut funktionierende Kombination aus Klassikern und Tour hatten wir bereits angesprochen. Er könnte also reinschnuppern in die Tour und wichtige Erfahrungen sammeln, ohne GC-Druck, aber mit wichtiger Helfer-Funktion und Freiheiten in den Bergen. Als Helfer für Alexandr Vlasov.

Vlasov war Elfter bei der Vuelta 2020 und Vierter beim Giro 2021. Der Russe ist ein Riesentalent und ein ordentlicher Zeitfahrer. Bei der Tour 2022 gibt es 53 Kilometer im Kampf gegen die Uhr. Deutlich mehr als beim Giro! Auch er kennt die Tour nicht, kann die Erfahrung also gut gebrauchen. Er ist ein Fahrer, der ohne große Helferriege gut klar kommt und man ihn auch nicht öffentlich mit der Kapitänsrolle belasten – die kann Wilco Kelderman bekommen. Der den Giro als Helfer für Buchmann fahren kann und dann alles auf die Tour ausrichtet. Der Plan für die Tour wäre dann auf Tagessiege und die GC-Doppelspitze Vlasov/Kelderman ausgerichtet.

 

Vuelta – Higuita & die Kletterer

Was für die Planung offen bleibt, ist die Spanien-Rundfahrt. Der Parcours ist typisch Vuelta – Berge satt! Das ideale Terrain für Sergio Higuita. Der 24-jährige Kletterer war bei seinem Grand-Tour-Debüt 14. – bei der Vuelta 2019. Reichlich Ziele für die erste Saisonhälfte lassen sich für den Kolumbianer leicht finden – die hügeligen Rennen, kurze Rundfahrten – er kann sich dort austoben und gleichzeitig ins Team wachsen. Wen man im Spätsommer neben Higuita eventuell als zweiten GC-Kapitän planen könnte, ist vielleicht ein zu weiter Blick voraus. Scheidet einer der Giro-Kapitäne in Italien früh aus, oder muss vor/während/nach der Tour in Sachen GC umgeplant werden, bietet die Vuelta eine gute zusätzliche Chance. Primoz Roglic hat es vorgemacht, wie man die Vuelta nach Pech bei der Tour ideal zur Wiedergutmachung nutzt.

Higuita könnte seine Rolle allerdings auch komplett mit Felix Großschartner tauschen, doch dann wäre der Kolumbianer vermutlich für die Ardennen keine echte Option.

Die GC-Fahrer bei den Grand Tours nach obigem Gedankenspiel:

Giro: Buchmann, Großschartner, Kelderman, (Aleotti + Fabbro)

Tour: Vlasov, Kelderman, Hindley, Schachmann

Vuelta: Higuita, Großschartner