Ihre Beziehung zum Rennen Strade Bianche wechsele von Hass zu Liebe. Können sie erklären, was an ihrer ersten Begegnung mit den Schotterstraßen in der Toskana so schlimm war?

Ich kann mich noch sehr gut erinnern, meine Strade-Premiere war 2018. Ich hatte mich sehr gut auf das Rennen vorbereitet, da ich bei meinen damaligen Team Trek-Segafredo freie Fahrt für das Rennen bekommen habe. Aber es war diese Austragung, bei der es extrem geregnet hat und auch sehr kalt war. Wir sind damals in den ersten Sektor rein geballert und ich war an zehnter Stelle sehr gut positioniert. Wir also mit 55 bis 60 Sachen vom Asphalt auf die Schotterpiste. In dem Fall war es weniger Schotter, sondern eher eine Mischung aus Schlamm- und Schmutzpiste. Dann hat es mir in einem Schlagloch den Lenker übelst aus der Hand geschlagen, sodass ich einen Überschlag fabriziert habe. Das Schlagloch konnte man nicht sehen, da Gesicht und auch Brille sehr schnell verdreckt waren. Ich habe mich dann geschüttelt und das Rennen trotzdem beendet. Sogar noch außerhalb des Zeitlimit, war aber der Einzige meines damaligen Teams, der durchgefahren ist. 

Verständlich, dass es einen nicht unbedingt wieder dahinzieht. Sie sind aber doch zurückgekehrt – und zwar 2020.

Nicht ganz freiwillig (lacht). Damals war die Strade direkt nach der langen Corona-Pause das erste WordTour-Rennen, das wieder stattfand. Ich hatte das schlechte Erlebnis von 2018 aber noch im Kopf und sagte zu meinem sportlichen Leiter: „Ganz ehrlich, ich bereite mich jetzt den ganzen Sommer wieder auf den Restart vor und dann kommt dieses Rennen, bei dem innerhalb von einer Sekunde alles passieren kann.“ Er hat mich dann überredet und das war dann der Beginn einer großen Liebe, denn es war mein erstes Top10-Ergebnis bei einem Klassiker.

Wie hat Sie Ihr sportlicher Leiter damals überredet?

Erstens: Er sitzt am längeren Hebel. Zweitens hatte er durchaus auch gute Argumente. Er meinte, dass die Charakteristik des Rennens mir liegt und ich technisch auch sehr gut auf den Sektoren bin. So haben wir gemeinsam beschlossen, dass ich das Rennen fahren werde.

Wie ging es aus?

2020 ist es mir noch nicht ganz gelungen, mit den Besten bis zum Schluss mitzufahren.  Im letzten langen Sektor musste ich reißen lassen, kam aber als Neunter ins Ziel. Ich habe aber gemerkt, wie gut das trotzdem gegangen ist. 2021 bin ich dann mit der Top-Gruppe durchgekommen und am Ende Sechster geworden. Am Limit war ich beide Male, aber es lief nahezu alles perfekt im vergangenen Jahr.

Hat sich Strade Bianche schon einen als Namen Klassiker gemacht, obwohl es ja gerade mal 15 Jahre alt ist? Es gibt ja auch Stimmen, die fordern, dass Strade das sechste Monument wird.

Ich glaube, der Begriff Monument ist etwas zu hoch gegriffen für dieses Rennen. Aber es ist definitiv zu den Klassikern zu zählen, auch wenn es noch recht jung ist. Wie man das jetzt werten will, dass bleibt jedem selbst überlassen. San Sebastian hat auch die Bezeichnung Klassiker verdient wie auch Strade. Natürlich würde ich mir, weil ich jedes Jahr hier so gut bin, wünschen, dass es irgendwann mal ein Monument wird.

Also Ihr Lebensziel als Rennfahrer wäre schon auf dem Podium bei diesem Rennen zu stehen oder es gar zu gewinnen?

Auf alle Fälle. Ich weiß auch nicht warum, aber das Rennen liegt mir offensichtlich ganz gut. Eine Podiumsplatzierung oder gar der Sieg, das wäre natürlich ein Traum.


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Welches sind die Schlüsselstellen bei diesem Rennen beziehungsweise muss man sich ähnlich wie bei den anderen Frühjahrsklassikern auch vor jedem Sektor gut positionieren?

Für mich besteht die Kunst, egal ob bei den flandrischen Frühjahrsklassikern oder bei Strade Bianche, darin, dass man zu Beginn des Rennens so wenig wie möglich Energie verschwendet, aber trotzdem in guter Position fährt und bleibt. Manchmal gelingt das besser, manchmal schlechter. Dann kommt natürlich, wie in jedem Rennen auch der Moment, in dem die Position unausweichlich wichtig ist. Das ist bei der Strade meistens in dem Sektor vor der Verpflegungszone. Und die ist so bei rund 90 Kilometern. Da fällt das Rennen dann das erste Mal so richtig auseinander. Dann läuft es zwar oftmals wieder zusammen. Und der Sektor nach der Verpflegungszone erzeugt dann auch wieder eine größere Selektion. Danach bleiben dann noch so rund 60 Mann übrig. Dann geht’s in den Monte Sante Marie. Das ist dann meistens der Abschnitt, wo am Ende nur noch die Favoriten übrig bleiben.

Die Schlussrampe in Siena hoch zum Piazza del Campo erfordert auch eine extreme Explosivität. Liegt Ihnen sowas?

Normalerweise habe ich einen sehr guten Drei-Minuten-Wert auf solch einem Anstieg. Auf dem Papier liegt mir das also. Aber man muss auch ehrlich sein, wenn man nach fünf Stunden Fahrzeit dahin kommt und doch auch schon etwas angeknockt ist, dann bringt einem der drei-Minuten-Wert auf dem Papier genauso wenig wie irgendwas. Das kommt wirklich darauf an, ob man an diesem Einstieg noch Reserven hat. Und der Einzige, der im vergangenen Jahr diese noch besaß, war Mathieu. Das war großer Radsport, den er dort abgeliefert hat.

Wie wichtig ist das Team bei solch einem Rennen?

Im vergangenen Jahr haben wir das bei Qhubeka sehr gut hinbekommen. Das haben wir ziemlich einfach gestaltet damals. Ich hatte mit Mauro Schmid einen Fahrer, der ständig an meiner Seite war. Er war übrigens derjenige, der später beim Giro d‘Italia auch die Strade Bianche-Etappe gewonnen hat. Mauro ist im Endeffekt immer direkt in meiner Nähe gefahren und hat mich in mehreren Sektoren sehr gut unterstützt. Gerade vor dem Schotterabschnitt, der nach der Verpflegungszone kommt, hat mich das Team perfekt in Position gebracht. Da war ich dann unter den ersten zehn, ohne dass ich wirklich Energie vergeudet hatte. Das ist dann schon ein riesiger Vorteil. Auf den letzten 70 Kilometer ist es dann aber meistens Mann gegen Mann. Da hat kaum einer mehr einen Teamkollegen dabei. Insofern ist es schon ein sehr sehr langes Finale ohne Mannschaftsunterstützung. Aber das ist dann für jeden gleich.

Wie reagiert man als Fahrer auf Attacken – schaut man sich genau an, wer da gerade antritt und überlegt, ob man hinterherfährt?

Vergangenes Jahr hat sich nur die Frage gestellt: Kann ich noch oder kann ich nicht mehr? Als Mathieu im letzten Schottersektor attackiert hat, ging es einfach nur noch darum, wer hat noch was übrig. Mein Problem war ein bisschen, dass ich um den van Aert im tiefen Schotter herumfahren musste. Da habe ich vielleicht das Quäntchen Momentum verloren, um vielleicht an Bernal dranzubleiben – aber das ist reine Spekulation. Wenn bei solch einem Rennen so spät noch im Finale einer attackiert, ist das brandgefährlich. Egal, wer dann fährt, wenn du Körner hast, dann musst du da einfach mitgehen.

Sie sagten neulich in einem Podcast, Strade Bianche wäre körperlich genauso fordernd wie Roubaix und Flandern, obwohl es rund 50 Kilometer kürzer ist?

Ja – bei Strade Bianche wird das Finale sehr früh eingeleitet und wird entsprechend hart gefahren. Das Fahren auf dem Schotter gepaart mit den Höhenmetern und dem Finale berghoch ist körperlich extrem anstrengend.

Wer sind für Sie die Favoriten für Samstag?

Nachdem Wout van Aert nicht mitfährt, sind es Julian Alaphilippe und Tom Pidcock.