Profil Mailand -Sanremo 2022

Das erste Monument des Jahres. Ein Rennen, mit viel Tradition und enormem Prestige. Mailand-Sanremo ist es das erste ganz große Highlight der Saison und der Auftakt des Radsportfrühlings. Die „la Primavera“, die Fahrt in den Frühling, ist ein sehr spezielles Rennen, mit einem einzigartigen Charakter. 

Mit rund 300 Kilometern absurd lang und mit einem unglaublichen Spannungsbogen. Zunächst passiert wenig, doch hat das Peloton die ligurische Küste erreicht, steigert sich nach und nach Spannung. Positionskämpfe, Hektik, ein sich immer weiter steigerndes Tempo bis in die berühmten Anstiege. Die Spannung steigt immer weiter, bis sie sich in letzten Minuten mit einem gewaltigen Feuerwerk bis zur Ziellinie löst. Ein komisches Rennen, das lange wenig Unterhaltung bietet, aber jedes Jahr eines der packendsten Finales der gesamten Saison.

Mailand-Sanremo gilt als das leichteste der fünf Monumente, aber gleichzeitig als das, was am schwierigsten zu gewinnen ist. Wird es 2022 einen Sprint geben, oder wird das Rennen mit einer Attacke am Poggio entschieden? Oder löst sich wieder ein Fahrer in der Abfahrt zum Ziel? Oder gibt es in diesem Jahr bereits an der Cipressa Attacken? Auch das gehört zu Mailand-Sanremo – selbst wenn das Rennen bereits im Gange ist, bleibt noch reichlich Zeit um über den Ausgang zu spekulieren.

Die Strecke

Das Rennen ist zurück auf der traditionellen Strecke. Während 2021 der Turchino-Pass nicht gefahren werden konnte, wird dieser nun wieder der höchste Punkt der Strecke sein. Aus dem Mailänder Zentrum geht es gen Süden, über den Turchino-Pass an die Küste. Dort geht es entlang der traditionsträchtigen Via Aurelia gen Sanremo. 

Mit den fünf „Capi“ – den kurzen, aber steilen Anstiegen auf den letzten rund 55 Kilometern zum Ziel, beginnt das Finale des Rennens. Zunächst Capo Mele (51,5 km vor dem Ziel) und Capo Cervo (46,6 km vor dem Ziel). Dann Capo Berta (38,8 km vor dem Ziel). Vor den Anstiegen wird es im Feld extrem schnell und alle Favoriten müssen aufmerksam sein. Die Kapitäne wollen möglichst weit vorn sein, damit sie bei  Stürzen oder einem Riss im Feld nicht abgehängt werden.

Der vorletzte Anstieg ist die Cipressa. Das große Feuerwerk gibt es meist erst am Poggio, aber wird das dieses Jahr anders sein?

Schlüsselstelle Poggio

Meist fällt die Vorentscheidung am Poggio. Im Jahr 2017 zog Peter Sagan das Tempo an und nur Michal Kwiatkowski und Julian Alaphilippe konnten folgen. Am Ende kam es zum legendären Sprint des Trios, bei dem sich Kwiatkowski den Sieg holte. In der Verfolgung von Sagan knatterte „Kwiato“ mit 37,6 km/h im Schnitt den Poggio hinauf und hat bis heute den Strava-KOM (Valverde war 2019 gleich schnell).

Im Jahr 2018 stiefelte Vincenzo Nibali allein davon und holte sich den Sieg. In den beiden darauffolgenden Jahren war es Julian Alaphilippe der am Poggio die Vorentscheidung herbeiführte. 2019 gewann er selbst, 2020 musste er sich Van Aert geschlagen geben. Im vergangenen Jahr setzte Stuyven in der Abfahrt vom Poggio die Attacke aus der Spitzengruppe und holte sich den Sieg.

Die Auffahrt zum Poggio beginnt 9 Kilometer vor der Ziellinie. Es geht 3,7 Kilometer auf einer schmalen Straße mit vier Haarnadelkurven bergan. Wer hier angreifen will, sollte vor dem Anstieg schon in einer guten Position sein. Dementsprechend schnell und hektisch wird es im Kampf um die Positionen vor dem Anstieg.

Das Finale von Mailand-Sanremo 2022

Die Favroiten

Durch die Coronapandemie ist das Profi-Peloton ohnehin schon gebeutelt, nun ging bei Paris-Nizza auch noch ein heftiger Erkältungsvirus um. So fehlen eine ganze Reihe von Top-Fahrern. Titelverteidiger Jasper Stuyven, Julian Alaphilippe, Sonny Colbrelli, Oli Naesen, John Degenkolb, … die Liste ist lang. Bis zum Start am Samstagmorgen können da vielleicht sogar noch ein paar Namen hinzukommen.
Update: Am Freitagmittag sagte nun auch Caleb Ewan krankheitsbedingt ab.

Zu den den Top-Favoriten zählen ganz sicher Wout van Aert und Tadej Pogacar. Beide fuhren zuletzt überragend. Van Aert hat das Rennen bereits gewonnen und ist nach 300 Kilometern ganz sicher einer der endschnellsten Männer. Pogacar ist bergauf unglaublich stark und sehr explosiv.

Doch es ist nicht nur ein Rennen dieser beiden Ausnahmeathleten. Im vergangenen Jahr überraschte Caleb Ewan, als er am Poggio die Attacken mitgehen konnte. Zum Sieg reichte es nicht, weil Stuyven mit einer späten Attacke seine Chance nutze und die Konkurrenz die Verantwortung auf Ewan ablud, der am Ende zu spät kam.

Michal Kwiatkowski, Alexander Kristoff und Arnaud Demare haben das Rennen ebenfalls bereits gewonnen. Demare wirkt aktuell nicht in der Verfassung von damals, aber einen Fahrer wie Michal Kwiatkowski muss man immer auf der Rechnung haben. Denn er besitzt viel Rennintelligenz, ist stark und spürt den richtigen Moment. Jasper Philipsen, Mads Pedersen, Michael Matthews, Alex Aranburu, Giacomo Nizzolo, Nacer Bouhanni, Davide Ballerini, Peter Sagan, Sören Kragh Andersen, Elia Viviani, Tom Pidcock, Greg van Avermaet, … auch ohne die oben genannten Ausfälle sind eine ganze Reihe von Top-Fahrern dabei, die ganz weit vorn landen können.

Cipressa-Attacken?

Vor dieser Austragung stellen sich in Bezug auf Taktiken und Verlauf mehrere Fragen. Denn mit einem Pogacar in Überform am Start, muss man vielleicht ein paar Sachen mehr in Betracht ziehen. „Pogi“ wird es vermutlich schwer haben, am Poggio Wout van Aert abzuhängen, wenn dieser bis dahin „nur mitrollen“ musste. Im Sprint dürfte er dem Belgier unterlegen sein. Nutzt der Toursieger also die Cipressa zur Attacke? Wie will er dann bis zum Poggio vorn bleiben? Kostet das viel zu viel Kraft um es zu versuchen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was wäre, würde UAE das Rennen bereits am dem Capo Berta schwer machen? Bergauf Vollgas, bis die Sprinter hinten in den Seilen hängen, vielleicht sogar den Anschluss verlieren? Bis zur Cipressa sind es dann 9 Kilometer flach. Kein Problem, für Ulissi, Polanc, Covi.

Dann volles Rohr in die Cipressa und Pogacar attackiert. Wie viele Fahrer können dann folgen? Kann man dann als Jumbo-Visma cool bleiben und Pogacar fahren lassen? Schließlich sind es wiederum fast 10 Kilometer bis zum Fuße des Poggio! Oder ist das Feld dann schon so klein, dass man besser mitgeht? Hat Pogacar dann sogar noch Formolo dabei, der locker vier, fünf Kilometer von vorn fahren kann, in der kleinen Spitzengruppe. Dann hätte Pogacar das Feld vor dem Poggio ausgedünnt, einigen bereits richtig weh getan. Sein Angriff am Poggio wäre ideal vorbereitet.

Oder kann das nie im Leben gelingen, da man zwischen Cipressa und Poggio schon 500 Watt treten muss, um sich überhaupt vor dem hinterherjagenden Feld halten zu können und man so die Körner unnötig schon vor dem Poggio mit beiden Händen ins Ligurische Meer schaufelt? Bei einem Pogacar weiß man nie – das macht den besonderen Reiz dieser Edition des Rennens aus.

Oder erhöht die Anwesenheit Pogacars sogar die Chance für die Sprinter? Entweder, weil Van Aert und Co an der Cipressa mitgehen und so bereits bereits Kräfte verschleißen, dann aber vor der Poggio in der Ebene wieder eingeholt werden, weil die Sprinter-Teams (Lotto-Soudal, Intermarche-Wanty, Trek-Segafredo…) konsequent zusammenarbeiten? Oder weil alle auf die Attacke von Pogacar warten, die dann aber nicht kommt, weil man bei UAE einen anderen Plan verfolgt und auf Covi und Ulissi setzt?

***** Wout van Aert
**** Tadej Pogacar
*** Mads Pedersen, Jasper Philipsen
** Mathieu van der Poel, Søren Kragh Andersen, Tom Pidcock, Giacomo Nizzolo, Nacer Bouhanni
* Biniam Girmay, Fabio Jakobsen, Christophe Laporte, Phil Bauhaus, Alberto Bettiol, Arnaud Demare, Alex Kristoff, Michael Matthews, Peter Sagan, Andrea Vendrame

Start: 9:50 Uhr
Ziel: ~17:15 Uhr

Die (vorläufige) Startliste bei FirstCycling

Deutsche Siege:
4x Erik Zabel (1997-1998-2000-2001)
1x Rudi Altig (1968)
1x Gerald Ciolek (2013)
1x John Degenkolb (2015)

Oscar Freire – Mailand-Sanremo 2007 (Foto: Roth&Roth)

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