Benoot, Küng und Van der Poel

Die Flandern-Rundfahrt ist in Sachen Taktik meist weniger kompliziert als der E3-Harelbeke oder Dwars Door Vlaanderen. Das Rennen ist abartig lang, brutal schwer und es kommen meist nur ein Dutzend Fahrer in Frage, die das Rennen gewinnen können. Am Ende jubelt meist der Stärkste, oder ein Fahrer des stärksten Teams. Doch auch wenn nur wenige Fahrer als potenzielle Sieger im Rennen sind, entscheidet auch die Taktik, wer denn aus dem erlauchten Kreis am Ende auf dem Podium die größte Flasche leert. Es geht um den optimalen Einsatz der Energie. Wer seine Glykogenspeicher zu früh leert, bekommt im Finale ein Problem. So sind vielleicht spektakuläre Überraschungssieger nahezu ausgeschlossen, aber das Rennen in Sachen Taktik höchst interessant.

In dem Moment, als dieser Text fertig war, kam die Meldung, dass sich Wout van Aert nicht gut fühlt und den Recon-Ride seines Teams auslassen muss. Deshalb müssen wir nun unterscheiden – wird Wout wieder fit und ist dabei, oder fällt er tatsächlich aus.

Variante 1 – Wout ist fit und dabei

Die Ausgangslage

Der Kreis der Top-Favoriten ist klein. Mathieu van der Poel, Wout van Aert, Tadej Pogacar, Kasper Asgreen, der Rest um Tom Pidcock ist vielleicht schon eine Kategorie darunter. Doch da wird es interessant. Denn während Van der Poel und Asgreen aktuell als einzige Fahrer ihres Teams um den Sieg fahren, hat Wout van Aert starke Teamkollegen. So darf man Tiesj Benoot ganz sicher zum erweiterten Favoritenkreis zählen. Zudem hat das Team noch die brutal starken Christophe Laporte und Mike Teunissen. Ähnlich ist das bei Ineos Grenadiers. Hier hat man zwar keinen Top-Top-Top-Favoriten, aber eben Pidcock UND Dylan van Baarle. Dazu den ultrastarken Neo Ben Turner, der sich bei seinem ersten Monument für seine Kapitäne zerreißen wird, wie bei Dwars Door Vlaanderen. Trek-Segafredo ist genau wie Ag2R in der Breite stark, scheint aber in der Spitze nicht gut genug für den Sieg. Auch da muss man sich etwas einfallen lassen.

Was Jumbo will

Kannst du als Team das Rennen über die Stärke gewinnen, willst du ein schweres Rennen. Dann kann man im Finale eine Überzahl schaffen und angreifen. Der zweite (oder gar dritte) Mann riegelt in der Verfolgergruppe ab, oder setzt den Konter. So hat es QuickStep jahrelang gespielt, als sie noch die Stärksten waren. Nun ist Jumbo-Visma das neu QuickStep und würde das Spiel gern genau so spielen. Für sie würde es gut passen, wenn man ab dem 2. Kwaremont-Paterberg-Doppel, oder etwas später ab Koppenberg das Tempo anzieht, damit nur noch ein kleines Grüppchen übrig ist, in dem man Überzahl hat. Dann kann nach Taainberg oder am Hotond der gewünschte Gewinner wegfahren und der Rest riegelt ab. Selbstverständlich klingt es bizarr, schreibt man für ein solch brutales Rennen „kann der gewünschte Gewinner wegfahren“, als würde man die Bedienungsanleitung für Energiegel schreiben. Aber es geht hier um den taktischen Plan, der selbstverständlich die nötige Stärke braucht und rein theoretisch ist. Keine Ronde läuft exakt so, wie vorher geplant, aber die Grundidee fürs Rennen bereitet den Weg. Dieser ist manchmal komplizierter, als die Menüstruktur der frühen Sigma-Radcomputer.

Was QuickStep will

QuickStep hat wohl nur einen Fahrer, der das Rennen gegen die starke Konkurrenz gewinnen kann: Kasper Asgreen. Der Däne ist eine Maschine, hat unfassbare Power und gerade bei solch schwerem Rennen am Ende Vorteile. Sein Team muss ihn also bei den Besten halten, möglichst kräfteschonend bis ins Finale bringen. Gehen Van der Poel oder Van Aert, muss er mit. Er muss verhindern, dass ein Jumbo-Visma-Fahrer entwischt, und er in der Verfolgung seine Energie lässt, während ein anderer Jumbo-Visma-Fahrer sich schont und dann wegfährt, sobald der entwischte Teamkollege eingeholt ist. Ideal aus QuickStep-Sicht wäre es, würde Asgreen gemeinsam mit den Top-Jungs in die letzte Kwaremont-Paterberg-Passage gehen.

Es stellt sich also die Frage, wie können er und seine Teamkollegen verhindern, dass er allein in einer Gruppe mit mehreren Fahrern der Konkurrenz landet und er dann taktisch in der Unterzahl Probleme bekommt? Dass Lampaert stark genug ist, am Koppenberg mitzufahren, wenn Laporte, Van Aert und Benoot drauflatschen und durchziehen, ist eher nicht zu erwarten. Dafür hat „John Deere“ noch nicht die Form, auch wenn diese aufsteigend ist. Ihn sollte man eher für Paris-Roubaix auf dem Zettel haben, aber das ist eine andere Geschichte.

Es wäre also von Vorteil, würde ein Fahrer „von vorn kommen„, also bereits vor dem Finale vor der Gruppe sein. Dieser kann sich dann bis zur Entscheidung für Asgreen aufopfern und dann auf dem Weg nach Oudenaarde nach getaner Arbeit die Startnummer abgeben und den direkten Weg nehmen, statt des schmerzvollen Umwegs über Kwaremont und Paterberg. Stybar und Lampaert in einer solchen Gruppe zu platzieren wird nicht leicht. Es gibt die Option, entweder einen Fahrer in die frühe Gruppe zu schicken, oder recht früh eine Verfolgergruppe zu initiieren. Am Molenberg vielleicht. Ja, das ist weit vorm Ziel (100 km), aber vielleicht hat die Konkurrenz ja ähnliche Gedanken und man formt eine stark besetzte Verfolgergruppe mit Trek-Segafredo, Bora-hansgrohe, Lotto-Soudal, Ag2R…. . Jumbo-Visma möchte das sicher verhindern, aber das wird eventuell auch für sie kräftezehrend! Man darf gespannt sein, was sich Fitte Peeters undTom Steels zurechtlegen, damit Asgreen an der Spitze in die letzten beiden Hellinge geht.

Was Ineos will

Tom Pidcock und Dylan van Baarle sind herausragende Fahrer, doch im direkten Kampf gegen Mathieu van der Poel und Kasper Asgreen im Finale nach 250+ Kilometern wird es vermutlich eng. Pidcock würde es für die Zukunft sicher gut tun, „einfach“ bei van Aert und Van der Poel zu bleiben und zu lernen. Der Kerl ist 22, erst ein Mal die Ronde gefahren und bekommt noch ausreichend Chancen bei den Monumenten.

Doch Ineos ist in der Breite so stark, dass man sich durchaus überlegen kann, was man macht. Van Baarle spielte bei Dwars Door Vlaanderen keine Rolle, war beim E3-Prijs aber bockstark. Ist er in Top-Verfassung, kann er bei den Besten mitfahren. Ein ähnlicher Typ wie Asgreen. Nicht so explosiv wie Van der Poel oder Van Aert, aber eine Maschine mit dickem Motor. Was wäre also, würde man Pidcock die offensive Rolle zuschreiben, damit er vielleicht die Jumbos beschäftigt, Van der Poel und Pogacar lockt, während Van Baarle sich zurückhält, bis er am Hotond die Attacke setzt? Pidcock wird ganz sicher nicht einfach fahren gelassen, das kann ein Vorteil sein. Jhonatan Narváez war bei Gent-Wevelgem leider gestürzt, ihn in Top-Form könnte man sicher auch gut gebrachen. Das gilt auch für Michał Kwiatkowski.

Vielleicht könnte man erneut Ben Turner in der frühen Gruppe platzieren. Der junge Kerl würde es genießen, bei der Ronde ganz vorn durch das Spalier der Fans zu knattern und ganz sicher über sich hinauswachsen, wenn seine Kapitäne von hinten kommen. Kommt Jumbo-Visma ihm nicht zuvor, könnte Pidcock am Koppenberg eskalieren und Van Baarle wäre die „warte aufs Finale-Option“. Oder umgekehrt? Das kann man zur Not noch nach dem ersten Kwaremont entscheiden, wenn man weiß, wie die Beine drehen.

Was Pogacar will

So wie dieser Kerl Rennen fährt, ist die Antwort auch die Frage, was er denn möchte, leicht: Spaß! Hinzu kommt, nach den Erfahrungen bei Dwars Door Vlaanderen, dass er ungern hinterherfahren will, wenn vorn Trettiere wie Stefan Küng, Mathieu Van der Poel, Nils Politt und Victor Campenaerts kreiseln. Pogacar ist einer der Fahrer, dem die anderen im Rennen möglichst vor der letzten Kwaremont-Passage Schmerzen bereiten wollen. Positionskampf, zupfen nach den Anstiegen, alles was Pogacar Körner kostet, ist willkommen. Doch was bedeutet das für Pogacar und sein Team? Der Doppel-Toursieger kennt die Ronde nicht, muss extrem aufmerksam sein und darf nicht wieder, wie bei Dwars Door Vlaanderen, ins Hintertreffen geraten. Auch UAE ist mit Krankheitsfällen gebeutelt. Vermutlich wird Matteo Trentin eine wichtige Rolle für Pogacar spielen müssen.

Auf der anderen Seite hat Pogacar nichts zu verlieren. Es ist seine erste Ronde, er ist 23 Jahre alt und seit Jahren supererfolgreich. Wird er bei seiner ersten Ronde 87. ist das eben so. Aber er selbst hat Bock und will Rennen fahren! Es ist also durchaus möglich, dass er mit einer „verrückten“ Aktion das Rennen sprengt. Vielleicht schon am Ten Haute, oder 2. Kwaremont? Dann muss die Konkurrenz reagieren. Einen größeren Gefallen könnte Pogacar Teams wie Ag2R, EF oder Ineos garnicht tun. Denn dann müsste Jumbo das Rennen in die Hand nehmen und Helfer verschleißen. Gäbe sicher eine ganze Reihe von Fahrern, die bei Pogacar auch 100 km vor dem Ziel mitgehen würden, wenn sie denn können. Ein Greg van Avermaet vielleicht, oder ein Tom Pidcock, Stefan Küng, … entsteht tatsächlich bereits dort eine starke Gruppe, würde Jumbo-Visma die Lücke mit Macht schließen müssen, …. oder eben mit drei Mann mitfahren. Doch dann hätte sich das schnell erledigt, denn wer will schon mit drei Jumbos gemeinsame Sache machen? Pogacar bringt Würze ins Rennen, ist am Ende vielleicht sogar der Fahrer, der den Verlauf den Rennens entscheidend beeinflusst, auch wenn er am selbst nicht gewinnt.

Was der Rest will

Für Fahrer wie Stefan Küng ist es schwierig, das Rennen selbst zu bestimmen. Küng ist bockstark und in diesem Jahr auch bergauf deutlich verbessert, doch es fehlt ihm das Team, das Rennen nach den eigenen Wünschen zu gestalten. Er muss schauen, dass er bei den Besten dabei ist. Etwas pokern, nicht zu früh Körner lassen und den anderen Teams die Arbeit zuschieben. Gehen Van der Poel, Van Aert und Co, muss er mit. Das gilt auch für Nils Politt. Klar, Politt könnte eine wilde Aktion bringen, doch da es in Sachen Ergebnisse bei der Bora-hangrohe-Klassikerfraktion bislang nicht so super lief, nimmt man lieber ein Top15-Resultat mit, als mit einer ganz wilden Aktion mit Minimal-Chance die potenzielle Top10-Platzierung zu gefährden. Politts Form ist aufsteigend, in zwei Wochen steht dann DAS Pflaster-Highlight an.
Ähnlich ist es bei DSM. Denn dort sind Nils Eekhoff und John Degenkolb nach gesundheitlichen Problemen noch nicht in Top-Form. So muss es Sören Kragh Andersen im Finale wohl allein richten, wenn er denn ins Aufgebot rückt.

Bei Ag2R-Citroen ist die Sache etwas anders gelagert. Sie müssen offensiv agieren, denn sie haben mehrere Fahrer die stark sind, aber nicht auf WVA/MvdP-Niveau. Eine Zwischengruppe, die vielleicht am 2. Kwaremont geht, wäre gut. So könnte man sicherstellen, dass man vor den Top-Fahrern ist, wenn die ihre Monster-Attacken reiten, die man vermutlich nicht mitgehen kann.

Mathieu van der Poel hätte wohl am liebsten eine ganz normale Ronde, bei der die besten Fahrer am Ende den Sieg unter sich ausmachen. Sicher gern genau wie 2020, oder auch wie 2021, dann nur mit einem kleinen Unterschied auf den letzten 100 Metern. Van der Poel ist ganz Sicher in der Verfassung dieses Rennen gewinnen zu können.

Trek-Segafrdeo und EF sind ein wenig die Wundertüten. Trek fährt mal bockstark, dann sind sie plötzlich nicht mehr zu sehen. Bei EF ist man bislang nur hinterhergefahren, was auch an den Krankheitsfällen liegt. Ein sehr interessanter Mann ist Matej Mohorič. Erst ein Mal ist der Sanremo-Sieger die Ronde gefahren, aber in seiner aktuellen Verfassung muss man fest mit ihm rechnen. Mit Heinrich Haussler hat er einen sehr erfahrenen Mann an seiner Seite.

Keine Chance für die „Klier-Taktik“?

Trägt man all die Gedanken zusammen, zeichnet sich ein taktisches Bild für die Ronde. Dennoch bleiben einige Optionen und verschiedene Szenarien. Glücklicherweise! Wovon eher nicht auszugehen ist, ist eine erfolgreiche „Klier-Taktik“. Die Kurzfassung ist, dass man nach dem Koppenberg in einer flachen Passage eine Konterattacke initiiert, die sich dann vor den großen Favoriten bis in den Kwaremont/Paterberg rettet, damit man dann im Finale dabei ist. Die Idee ist, dass man so den direkten Kampf mit den Van Aerts und Van der Poels umgeht. Also: man fährt schon vorher weg, um dann VOR den Favoriten zu sein, wenn die hinten losfahren. Ex-Profi Andreas Klier ist einer der absoluten Top-Klassikerexperten und hat so beispielsweise bereits vor Jahren Dylan Van Baarle in die Top10 navigiert. Dazu sei an dieser Stelle der Podcast mit ihm empfohlen.

In diesem Jahr spricht einiges dagegen, dass dieser Plan (von wem auch immer durchgeführt) klappen kann. Denn es gibt vielleicht einige, die schon eher losfahren wollen, dazu wird wohl das Team Jumbo-Visma spätestens dort das Rennen schwer machen und für eine taktische Überzahl sorgen wollen. Allerdings vielleicht nur dann, wenn Van Aert fit wird.


Variante 2– Wout fällt aus

In diesem Falle ändert sich die Ausgangslage dramatisch. Wer hier anfängt zu lesen, springt bitte wieder hoch, das was oben steht, wird in Bezug genommen. Das Team Jumbo-Visma verliert den wichtigsten Mann für das taktische Überzahl-Spiel. Tempo am Koppenberg hochziehen und dann eine ~10er Gruppe mit drei Jumbo-Fahrern wird man wohl nicht hinbekommen. Man wäre dann in der Situation, dass man die Attacken von Van der Poel, Pogacar oder Pidcock abdecken muss, ohne selbst Gefahr zu laufen, hinterherfahren zu müssen. Zudem ist man nur mit Laporte in einem Sprint gegen van der Poel halbwegs auf Augenhöhe. Benoot muss die endschnellen Pidcock und Van der Poel abschütteln, will er das Rennen gewinnen.

Nun auf Augenhöhe – was Ineos will

Nun rückt durch den Ausfall Van Aerts das Team Ineos fast auf Augenhöhe mit Jumbo-Visma. Mit Van Baarle und Pidcock kann man im Finale zwei Karten spielen, deren Chancen sich erhöhen. Mit dem starken Ben Turner neben Van Baarle und Pidcock hat man eine dritte starke Option.

Pidcock ist der endschnellere, van Baarle extrem tempohart. Ideal wäre es, würde Van Baarle nach dem Koppenberg in einer kleinen Gruppe mit Fahrern wie Stefan Küng oder Sören Kragh Andersen entschwinden. Dann könnte Pidcock dahinter nur „draufliegen“ und bei Van der Poel & Asgreen bleiben, die aber nachführen müssten. Verkraftbar wäre es auch, wäre dort ein Jumbo-Mann dabei. Ben Turner könnte man vielleicht in der Vorbereitung dieses Angriffs gebrauchen. Positionsarbeit und Tempo – dann geht Van Baarle. Soweit die Theorie. Gelingt es tatsächlich eine solche Gruppe zu initiieren, hätte man einen Fahrer voraus, der dann nach dem letzten Kwaremont vielleicht eingeholt wird, fahren dort Van der Poel und Asgreen los. Man könnte dieses Szenario auch andersrum spielen und Pidcock voraus schicken.

Klar ist: Wenn Van Aert ausfällt, rückt Ineos mehr in die Rolle, das Rennen gestalten zu können. Aber vielleicht auch zu müssen.

Was QuickStep will

Siehe oben. Allerdings profitiert Asgreen immens von der Schwächung des Jumbo-Teams. Er muss einen Fahrer weniger im Blick behalten, kann sich auf Benoot und Van der Poel konzentrieren, um am Ende seine Power auszuspielen. Auch die „extrem frühe Attacke“ durch Lampaert kann man sich sparen, geht man davon aus, dass Jumbo nun das Rennen nicht ab dem Koppenberg nach Belieben zerpflückt. Also lieber einen Mann bei Asgreen behalten, der helfen kann vor den Schlüsselstellen, beispielsweise auch in der Anfahrt zum Kwaremont. Taktisch wird es für QuickStep einfacher und die Ausgangslage deutlich besser.

Was Pogacar will

Für Pogacar ändert sich wenig. Ähnlich wie bei QuickStep spricht der Ausfall von Van Aert eher gegen eine verrückte Aktion. Jumbo kann das Rennen ohne Van Aert nicht so früh an sich reißen, das eröffnet für Pogacar die Chance, länger „nur“ mitzufahren. Klar, er muss weiter um Positionen kämpfen, das Rennen kennenlernen und versuchen, sich Körner zu sparen, doch je weniger Jumbo das Rennen an sich reißt und das Tempo anzieht, desto mehr kann Pogacar sparen.

Was der Rest will

Je weniger dominant das stärkste Team ist, desto besser ist es für Fahrer ohne Top-Helfer. Ob Küng, Kragh Andersen oder Mohoric – die Chancen auf den Sieg erhöhen sich, hat man es in einer Favoritengruppe nicht mit drei Fahrern eines Teams zu tun. Grundsätzlich gilt das weiterhin, was oben ausgeführt ist. Doch die eigenen Chancen sind deutlich gestiegen. Das gilt auch für Van der Poel, der eben einen Fahrer weniger als direkten Konkurrenten hat und bei Jumo-Visma nun am ehesten Bennot zu fürchten hat, der aber im Sprint schlagbar wäre, wie man am Mittwoch gut sehen konnten (auch wenn ein Sprint nach 270 km ein anderer ist).

Was nun Jumbo-Visma macht

„Wir müssen uns dann einen anderen Plan zurechtlegen“, sagte Grischa Niermann am Donnerstag. Doch wie kann der neue Plan aussehen, wenn man den eigenen Top-Fahrer und einen der drei absoluten Top-Favoriten auf den Sieg verliert? Das Rennen an sich reißen, Überzahl schaffen und dominieren wird schwer. Mit Van Aert, Laporte und Benoot wäre die Chance groß gewesen, nach dem Koppenberg in einer ~10er Gruppe zu dritt zu sein. Doch so wird das schwierig. Zwei Gedankenspiele kommen in solch Situationen schnell in den Kopf: Entweder defensiver fahren, oder erst recht Attacke.

Die defensivere Variante wäre vielleicht so, dass man auf den letzten 100 Kilometern die Gruppen besetzt, sollten welche gehen, aber sich sonst nicht exponiert. Mitgehen, dabei sein, aber die anderen das Rennen kontrollieren lassen. Nach dem Motto: Bei Mailand-Sanremo wollte uns niemand helfen, dann sollen sie es jetzt eben auch allein machen.

Oder man schickt direkt einen Mann mit in die frühe Gruppe, dann ist man raus, in Sachen Verfolgungsarbeit. Dann wäre es spannend zu beobachten, wer dann im Feld überhaupt nachfährt und die Verantwortung übernimmt. Im Finale muss man dann aber so oder so mit, wenn Van der Poel und Asgreen attackieren. Ist Laporte so stark, dass er mitfahren kann, hätte er im Sprint eine Chance. Benoot muss fast allein ankommen, oder er ist überstark. Gut, in diesem Falle kommt er vermutlich dann ohnhin allein an. Man wird sehen.

Die andere Variante wäre, man setzt auf die komplette Breite und geht extra-früh in die Offensive. Was passiert, wenn eine Gruppe mit Mike Teunissen und/oder Nathan Van Hooydonck am Ten Haute oder zweiten Kwaremont wegfährt? Wer will/kann dahinter seine Helfer verschleißen? Oder schickt dann Ineos einen Ben Turner mit und Fahrer wie Iwan Garcia Cortina sind auch dabei? Warten Van der Poel und Asgreen dann auch nur einen Moment zu lange, ehe sie konsequent nachsetzen, werden sie Mühe haben, das Loch zuzufahren. Zumindest lassen sie dann reichlich Körner, ehe sie am Ende doch wieder aufschließen. Das kann sich dann rächen.

Wählt Jumbo nun eher den defensiven Ansatz, oder mehr Attacke, wenn Van Art nicht dabei ist? Beides ist möglich. Der konservativere Ansatz dürfte wahrscheinlicher sein, denn Bennot ist tatsächlich in herausragender Verfassung und für einen Platz auf dem Podium bei einem normalen Verlauf des Rennens ganz sicher einer der Top-Kandidaten. Doch ohne Wout van Aert rückt man auch mental etwas in die Außenseiter Rolle. Vielleicht will man genau das aufbrechen und volle Offensive wagen. Ganz sicher würde dem Team niemand einen Vorwurf machen, landet man dann nicht in Top5, hat aber das Rennen stark geprägt. Und um UCI-Punkte muss man sich bei Jumbo-Visma ohnehin keinen Sorgen machen.

Von frühem Angriff, über defensive Ansätze bis Klier-Taktik ist alles möglich

Der Ausfall von Wout van Aert würde die Voraussetzungen für das Rennen komplett verändern. Nun müssen die Teams sich nicht in ersten Linie darüber Gedanken machen, wie sie eine Unterzahl gegen die überstarken Jumbos umgehen, sondern es rücken Van der Poel, Asgreen und die Ineos-Jungs mehr in die Favoritenrolle. Wird sich dort vielleicht etwas angeschaut und sind (fast) nur noch Kapitäne und Van der Poel in der Favoritengruppe nach dem Koppenberg, wird man dort nicht sauber durchkreiseln. Das eröffnet auch die Chance für den Einsatz der Klier-Taktik. Auch für Mannschaften wie Ag2R-Citroen! Dazu der unberechenbare Tadej Pogacar, der sich nach den Erfahrungen von Dwars Door Vlaanderen vielleicht zu einer frühen Attacke hinreißen lässt.

Klar, all diese Überlegungen und viele weitere mehr, stellen die Sportlichen Leiter auch an. Man darf gespannt sein, welche überraschenden Taktiken sie aus dem Hut zaubern.